Vor 75 Jahren durfte Daimler wieder mit dem Bau von Autos beginnen. Erster Nachkriegs-Benz war ein spartanisches Arbeitstier: der Mercedes 170 V.
Der Winter 1945 ist einer der tristesten in der Geschichte der Stadt Stuttgart. Kriegsfolgen überall, zerbombte Ruinen, Hunger, Not. Sieben Monate nach Kriegsende ist vom Wirtschaftswunder noch lange nichts zu sehen. Doch soll ausgerechnet dieser Winter eine Sternstunde für die damalige Daimler Benz AG bereithalten: Die für Württemberg zuständige Wirtschaftsbehörde der US-Besatzungszone erteilt dem Autohersteller noch vor Weihnachten eine Produktionserlaubnis. Sie gilt – wenn auch ausschließlich – „für Pritschenwagen, Kastenwagen und Krankenwagen auf Basis des Personenwagens 170 V".
Jener 170 V, um den es geht (Werks-Code W 136), ist eigentlich ein Vorkriegsprodukt, das Daimler schon 1936 vorgestellt hatte. Die Erlaubnis zum erneuten Bau überrascht offenbar selbst die Unternehmensleitung. Das Werk Untertürkheim war zu 70 Prozent zerstört, die Fabrikanlagen in Sindelfingen sogar zu 85 Prozent. Früher hatte man in Sindelfingen Karosserien gebaut, in Untertürkheim produzierte man die Antriebsstränge und setzte anschließend die Karosserien drauf. Der Karosserietransport durchs Neckartal aber hatte sich schon vor dem Krieg als aufwendig und teuer erwiesen. Jetzt ist er faktisch unmöglich. Also plant Daimler, die Motoren künftig zwar weiter in Untertürkheim zu bauen, die Endmontage aber in Sindelfingen anzusiedeln.
Preis staatlich festgelegt
Nur drei Monate später, am 22. Februar 1946, ist ein 1,7 Liter großer, gerade mal 38 PS starker Vierzylinder in Untertürkheim der erste von Daimler nach dem Krieg gebaute Motor. In Sindelfingen wird er schon ungeduldig erwartet. Von den dort genehmigten Modellen bietet der Krankenwagen die meisten Parallelen zum bislang nur als Limousine bekannten 170 V. Die Hinterachsübersetzungen bleiben unverändert, die Felgengrößen ebenfalls. Auch muss die zulässige Geschwindigkeit nicht gedrosselt werden. Etwas schwieriger gestalten sich da schon die Lastvarianten. Bei den Pritschen- und Kastenwagen müssen vor allem die X-förmigen Ovalrohrrahmen verstärkt werden, was die Wagen etwa 40 Kilo schwerer macht. Felgen sind anzupassen und die Hinterachsübersetzungen kürzer auszulegen. Als Höchstgeschwindigkeit sind 80 km/h vermerkt. 750 Kilo sollen die kleinen Transporter schultern.
An Luxus oder gar Opulenz, jene Markeninsignien der Zukunft, ist noch lange nicht zu denken. Die Autos sind spartanisch ausgestattet. Außen kein Lametta, innen kein Komfort. Aufgrund des Materialmangels wird ständig improvisiert. Vor allem Bleche gibt es kaum, das Fahrerhaus ist aus Holzfaser-Hartplatten konstruiert. Als Seitenscheiben dienen einfache Schiebegläser, als Türarretierungen simple Kastenschlösser. Ausgeliefert werden die ersten Bestellungen ohne Reifen – diese müssen sich die Kunden selbst organisieren. Doch trotz aller Widrigkeiten baut Daimler im ersten Produktionsjahr 1946 immerhin 183 Kleinlaster und 31 Krankenwagen.
In der Unternehmensleitung ist man sich indessen sicher, dass auch die Genehmigung für ein Pkw-Modell her muss, um profitabler zu werden. Das ständige Bohren bei den Amis zeigt schließlich Wirkung. Im Juli 1947 läuft der 170 V auch als erste Nachkriegslimousine von Mercedes vom Band. Der Preis von 6.200 (noch gültigen) Reichsmark ist staatlich festgelegt. Für die allermeisten Menschen eine utopische Summe, allerdings sind Neuwagen ohnehin nicht am freien Markt erhältlich. Nur wer beruflich oder gesundheitlich einen Bedarf nachweist, kommt auf die Liste der Bewerber. Der 170 V gerät so zu einem Lehrstück zum Thema Schwarzmarkt. Dort werden die Autos um ein Vielfaches gehandelt – zu Preisen zwischen 100.000 und 120.000 Reichsmark. Dem Treiben setzt erst die Währungsreform von 1948 ein Ende. Fortan ist der Wagen offiziell für 8.180 neue DM ohne Zuteilung erhältlich.
Diesel Auftakt der Taxi-Karriere
Die Währungsreform weckt Sehnsüchte in der noch jungen Republik. Auch dafür steht der Mercedes 170 V Modell. Plötzlich gibt es mehr Kunden, die einen Pkw bestellen als Käufer eines Nutzfahrzeugs. Das Interieur wirkt dank elfenbeinfarbener Armaturen mit schwarzen Zahlen nun etwas eleganter, und Daimler leistet sich einen großen Auftritt auf der Exportmesse in Hannover. Der Vorstandsvorsitzende Dr. Wilhelm Haspel weist dort 1948 auf die schwierigen Produktionsbedingungen hin. So sei die „Exportfähigkeit" durch das Fehlen zahlreicher Hilfsmaterialien behindert, so zum Beispiel „Dinge, die zur Herstellung einer Hochglanzpolitur gehören, wie Polierpaste und wasserfeste Schleifpaste". Allerdings, auch das weiß Haspel einzuordnen, gibt es in Europa seinerzeit ohnehin nur beschränkte Exportmöglichkeiten nach Belgien, Luxemburg und in die Schweiz. In allen anderen Märkten heißt es: Kein Zugang für deutsche Waren.
Das soll sich schon bald ändern. Viele Länder heben nach und nach die Importverbote auf. Das robuste Auto ist zu begehrt. Made in Germany – nicht nur der VW Käfer, auch der Mercedes 170 V trägt wesentlich zum Glanz dieses Labels bei. Glanz findet sich bald auch in den Augen vieler Gewerbetreibender, die auf günstige Verbräuche schielen: 1949 stellt Daimler mit dem 170 V „D" den ersten Nachkriegsdiesel der Marke vor. Er bildet den Auftakt einer geradezu legendären Taxi-Karriere der Marke Mercedes-Benz. Parallel dazu gibt es den ersten Anflug von Luxus in Form des etwas repräsentativeren Mercedes 170 S. Bis 1953 noch bauen die Schwaben die 170er-Reihe. Die Zigarren im Land werden anschließend wieder dicker. Mit ihnen die Autos, auch die mit Stern.