Ein von Bakterien im Wurzelfumfeld der Ginseng-Pflanze gebildeter Naturstoff namens Rhizolutin könnte ein Heilmittel gegen Alzheimer sein. Weil er bei Tests mit Tieren und menschlichen Zellkulturen die für die Demenz-Erkrankung typischen Plaques-Ablagerungen auflösen konnte.
Schon der Verdacht auf Morbus Alzheimer ist für die Betroffenen und ihr unmittelbares Umfeld eine niederschmetternde Diagnose. Mit der sich leider immer mehr Menschen konfrontiert sehen. In der Bundesrepublik sind nach jüngsten epidemiologischen Schätzungen laut der Deutschen Alzheimer Gesellschaft rund 1,6 Millionen Bürger von dieser bislang nicht heilbaren Demenz-Erkrankung betroffen, jährlich müssen rund 300.000 neue Fälle registriert werden. Prognosen der Deutschen Alzheimer Gesellschaft zufolge könnte sich die Zahl der Demenzerkrankten hierzulande bis zum Jahr 2050 auf 2,4 bis 2,8 Millionen erhöhen. Wobei Alzheimer auch dann wohl die mit Abstand häufigste Demenz-Erkrankung sein dürfte – derzeit beläuft sich ihr Anteil an den weltweit rund 47 Millionen Demenzfällen auf 65 Prozent. Der mit Alzheimer einhergehende schleichende Verlust der eigenen Persönlichkeit, über Zwischenstufen wie Gedächtnis- und Orientierungsstörungen oder Nachlassen des Denk- und Urteilsvermögens, kann bislang weder gestoppt noch dauerhaft rückgängig gemacht werden.
Mithilfe von Medikamenten oder durch elektrische Stimulation noch funktionierender Hirn-Nervenzellen kann der Krankheitsverlauf allenfalls verlangsamt werden. Auf der Suche nach einer heilenden Therapie läuft die Alzheimer-Forschung auf Hochtouren. Wobei viele Wissenschaftler ihre Hoffnungen auch auf nicht-medikamentöse Behandlungen bis hin zu Operationen setzen. Es gibt immer wieder Rückschläge, wie die Probleme mit dem neuartigen Wirkstoff Aducanumab, der als Antikörper gegen die charakteristischen Eiweißablagerungen im Gehirn zum Einsatz vorgesehen war. Interessant könnte ein im Sommer 2020 vorgestellter experimenteller Bluttest sein, mit dem Alzheimer schon in einem Frühstadium festgestellt werden könnte, weil jeder Betroffene von einem möglichst frühzeitigen Behandlungsbeginn profitieren kann. Derzeit sind weltweit Unmengen an Alzheimer-Studien am Laufen, wobei die Forscher ihr Hauptaugenmerk häufig auf die Eiweiß-Plaques und die Rolle von Entzündungsprozessen im Gehirn richten.
Unlösliche Plaques und Fasern verursachen das Absterben von Nervenzellen
Auch ein Team aus der Republik Korea rund um Prof. Dong-Chan Oh vom College of Pharmacy der Seoul National University und Prof. Young Soo Kim von der Yonsei University in Incheon haben sich auf genau diese beiden Ansätze bei ihrer aktuellen Alzheimer-Forschung konzentriert und die Ergebnisse ihrer ebenso überraschenden wie den Betroffenen Hoffnung machenden Studie kürzlich im Fachmagazin „Angewandte Chemie" veröffentlicht. Da Prof. Oh sich bei seinen Arbeiten vor allem auf die Entdeckung bioaktiver, von Bakterien produzierter Naturstoffe konzentriert – schließlich fungiert er an der Universität Seoul auch noch als Direktor des Natural Products Research –, wird sicherlich erklärbar, dass sich sein Forschungsteam auf der Suche nach neuen Alzheimer-Wirkstoffen ausgerechnet einem bislang kaum berücksichtigten Ökosystem zugewandt hatte, nämlich der sogenannten Rhizosphäre. Der Begriff wurde bereits 1904 vom Bakteriologen Lorenz Hiltner geprägt und bezeichnet den Bereich des Bodens, der unmittelbar von Pflanzenwurzeln beeinflusst wird. Die Rhizosphäre ist ein wichtiger Lebensraum für Mikroorganismen, die sich von durch die Pflanzenwurzeln freigesetzten Stoffen, sogenannten Exsulaten, ernähren.
Da Ginseng im asiatischen Raum seit jeher als Heilpflanze und Stärkungsmittel hoch angesehen ist, war es eigentlich naheliegend, dass sich die koreanischen Wissenschaftler das Wurzelumfeld genau dieser Pflanze einmal genauer angesehen hatten. Dabei stießen sie auf einen in der Medizin schon altbekannten Bakterien-Stamm namens Streptomyces, dessen Fähigkeit zur Produktion zahlreicher Antibiotika in der Pharma-Branche schon hinlänglich zum Wohle der Menschheit genutzt wird – schließlich werden mehr als 50 Prozent der gängigen Antibiotika von Streptomyceten hergestellt. Im Umfeld der Gingseng-Wurzeln fanden die Wissenschaftler nun eine Streptomyces-Spezies, die durch Verwertung der Gingseng-Nährstoffe einen ganz neuartigen, bislang völlig unbekannten Naturstoff erzeugen kann, den das Team auf den Namen Rhizolutin taufen sollte.
Um diesen genauer analysieren zu können, kultivierten die Wissenschaftler die Streptomyces-Bakterien im Labor auf einem mit Ginseng-Pulver angereicherten Substrat. Die dichte Nährstoffkonzentration ermöglichte den Bakterien eine Erhöhung der Rhizolutin-Produktion um das Zehnfache im Vergleich zum natürlichen Wurzelumfeld. Was dem Team die Möglichkeit eröffnete, den genauen Aufbau der Struktur des Rhizolutin-Moleküls zu entschlüsseln. Dieses entpuppte sich als ein einzigartiges, mehr als ungewöhnliches Gerüst aus drei miteinander verknüpften Ringen, die zusätzlich noch von einem sieben- und sechsgliedrigen Ring umschlossen sind. Um etwaige schon bekannte Moleküle mit ähnlichem Aufbau zu finden, führten die Forscher einen Abgleich mit Naturstoff-Datenbanken durch – und konnten dabei feststellen, dass es offenbar schon ähnliche Substanzen gab, die als mögliche Wirkstoffe gegen die Alzheimer-Plaques eingeschätzt werden. Die Koreaner zogen daraus den logischen Schluss, dass sie mit Rhizolutin einen neuen Alzheimer-Wirkstoffkandidaten entdeckt hatten – dem es möglichst gelingen sollte, die für die Erkrankung typischen Plaques aus fehlgefalteten Beta-Amyloid- und Tau-Proteinen aufzulösen. Beim gesunden Menschen werden die Beta-Amyloiden oder Protein-Fragmente zersetzt und vernichtet, beim Alzheimer-Patienten werden sie zu harten und unauflöslichen Plaques oder Ablagerungen. Auch die im Krankheitsverlauf in ihrer Faserstruktur veränderten Tau-Fibrillen, die vornehmlich aus Tau-Proteinen bestehen, können beim Alzheimer-Patienten nicht mehr entsorgt werden. Die Ansammlung von unlöslichen Plaques und Fasern ist letztendlich verantwortlich für das Absterben von Nervenzellen, für Nervenentzündungen, Hirnschwund und den daraus resultierenden kognitiven Einschränkungen.
Um die potenzielle Wirksamkeit von Rhizolutin zur Auflösung der schädigenden Ablagerungen zu überprüfen, führten die Koreaner nun Versuche an Kulturen von menschlichen Neuronen und Gliazellen sowie an unter Alzheimer leidenden Mäusen durch. Laut den Forschern „führte die Behandlung der Mäuse mit Rhizolutin zu einer signifikanten Auflösung von Proteinplaques im Hippocampus der Tiere". Wobei der Naturstoff sowohl auf die zerfaserten Tau-Proteine als auch auf die Beta-Amyloid-Plaques angesprungen war. Bei den menschlichen Zellkulturen konnte dank Rhizolutin sowohl eine Hemmung des Zellsterbens wie auch des Entzündungsprozesses festgestellt werden. Daher konnten die Wissenschaftler das Fazit ziehen, dass ihre „Ergebnisse belegen, dass diese einzigartige chemische Verbindung sowohl die Amyloid-Plaques als auch die Tau-Proteine angreift".
Von daher halten die Koreaner Rhizolutin für eine mögliche Alternative zu anderen Wirkstoffen, die im Rahmen einer bislang noch nicht offiziell zugelassenen Immuntherapie bereits in einigen klinischen Studien an Menschen erprobt wurden, mit dem Ziel, falsch gefaltete Proteine zu entfernen. Anhand einer Computer-Simulation stellten die Forscher die Hypothese auf, dass Rhizolutin wahrscheinlich in die Ablagerungen über deren wasserabweisende Bereiche eindringen und die Klumpen danach von innen auflösen kann. Ob der Naturstoff tatsächlich das lang erwartete Wundermittel gegen Alzheimer sein kann, muss natürlich noch in großen klinischen Studien überprüft werden – weil man keineswegs sicher sein kann, dass Wirkstoffe, die in Tierversuchen erfolgreich erprobt wurden, tatsächlich die gleichen positiven Ergebnisse bei Menschen erzielen können.