Die Eltern sind peinlich, die Schule ist doof, die Gefühle fahren Achterbahn. Niemand scheint einen zu mögen, und oft kann man sich selbst nicht leiden. Während des Übergangs zum Erwachsenenalter ist das Leben furchtbar anstrengend. Und auch die Nerven der Väter und Mütter liegen blank.
Der Nachwuchs ist unberechenbar, riskiert viel und hält sich nicht an Regeln. „Was geht nur im Kopf unseres Kindes vor?", fragen sich zahlreiche Eltern. „Sehr viel", lautet die Antwort der Fachleute. Während der Pubertät wird das Gehirn komplett umgebaut – bei laufendem Betrieb sozusagen. Bisher wurde alle Energie in den Aufbau neuer synaptischer Verbindungen investiert. Jetzt geht es um die Feinabstimmung. Überflüssige Nervenverbindungen werden gekappt, leistungsfähige verstärkt. „Reduktion und Spezialisierung" nennt das der Völklinger Kinder- und Jugendarzt Dr. Andreas Niethammer. Während im Gehirn aufgeräumt wird, gerät im Leben einiges durcheinander. Unterschiedliche Entwicklungsaufgaben stellen die Heranwachsenden vor große Herausforderungen: Sie sollen ihre Rolle in den verschiedenen sozialen Gruppen finden, sich vom Elternhaus lösen und die eigene Identität herausbilden. Die unvermeidlichen Rückschläge können auf den Magen schlagen, psychosomatische Beschwerden wie Kopfschmerzen treten erstmals auf. Eigene Behinderungen, die bisher keine Rolle spielten, rücken in den Fokus. Auf das Mitgefühl der Gleichaltrigen kann man nicht bauen – im Gegenteil. Pubertierende haben eine verzögerte und schlechtere Wahrnehmung von Gefühlen anderer, erläutert Dr. Niethammer. Deshalb neigen sie zu Rücksichtslosigkeit. „Objektiv gesehen ist das Jugendalter im Durchschnitt kein sehr glückliches Alter", vermutet der Arzt im Gespräch mit unserem Magazin.
Überflüssige Nervenverbindungen werden gekappt, leistungsfähige hingegen werden verstärkt
Was also tun? Augen zu und durch? Wer Sport treibt, musiziert oder sich in einem Verein engagiert, kommt besser durch die Chaosjahre. Gerade der Anfang sei schwer, betont Andreas Niethammer. Die kindlichen Hobbys machen keinen Spaß mehr, die Freizeitbeschäftigungen der Erwachsenen sind noch nicht erlaubt. Und dann ist da ja noch die Sache mit dem Sex. Wann ist der optimale Zeitpunkt für das erste Mal? Wer ist der richtige Partner? Und wie geht das überhaupt? Frühere Generationen waren froh, wenn sie in einer Jugendzeitschrift oder im Fernsehen ein küssendes Paar sahen, heute sind Pornos für jeden immer und überall online verfügbar. Die Jugendlichen können das Gesehene aber gut einordnen, sagt Dr. Niethammer. Sie übertragen den dort gezeigten Hochleistungssex nicht auf ihre Lebenswelt.
50 Prozent der jungen Leute haben mit 15 Jahren den ersten Geschlechtsverkehr.
Die Pubertät beginnt, wenn die Hirnanhangsdrüse den Körper beauftragt, verstärkt Geschlechtshormone zu produzieren. Sie werden von verschiedenen Organen ins Blut ausgeschüttet – bei den Mädchen vor allem Östrogen, bei den Jungen Testosteron. Die chemischen Botenstoffe sorgen für die vollständige Ausprägung der sekundären Geschlechtsmerkmale, der männliche Bart und die weibliche Brust wachsen. Bei Mädchen beginnt die Menstruation, kurz danach bilden sich befruchtungsfähige Eizellen. Bei den Jungen vermehrt sich die Muskelmasse, Penis und Hoden wachsen, die Spermienproduktion beginnt. „Das Alter beim Einsetzen der Pubertät ist seit etwa 30 Jahren konstant", erläutert Dr. Niethammer. Anfang des vorigen Jahrhunderts hatten Mädchen mit 15 oder 16 Jahren ihre erste Monatsblutung. Aktuell setzt die Periode im Schnitt mit 12,5 Jahren ein, mit 15 Jahren ist das Wachstum meist abgeschlossen. Bei den Jungen ist der Pubertätseintritt etwa eineinhalb Jahre später, dementsprechend länger wachsen sie noch. Allerdings variiert der normale Pubertätsverlauf bei den einzelnen Jugendlichen um bis zu vier Jahre.
Wichtig zu wissen: Während der Körper ausgewachsen ist, reift das Gehirn noch weiter. Es bleibt anfällig für Gifte. Da ist es gut, dass der Alkoholkonsum bei Jugendlichen rückläufig ist, das Zigarettenrauchen hat dank verschiedener Interventionen noch stärker abgenommen. Laut einer im Juli 2020 von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) vorgestellten Repräsentativbefragung geben nur noch 5,6 Prozent der Zwölf- bis 17-Jährigen an zu rauchen – ein historischer Tiefstand. Doch nicht bei allen Suchtmitteln ist die Entwicklung so positiv. „Beim Konsum von Cannabis ist erneut ein Anstieg zu beobachten. Das sehen wir mit Sorge. Cannabis ist die mit Abstand am meisten konsumierte illegale Substanz. Dies ist besonders bedenklich, da der Konsum im Jugendalter mit besonderen Risiken für den wachsenden Organismus verbunden ist", erklärt BZgA-Leiterin Prof. Dr. med. Heidrun Thaiss. 10,4 Prozent der Zwölf- bis 17-Jährigen und 46,4 Prozent der 18- bis 25-Jährigen haben schon einmal Cannabis ausprobiert.
Die Jugendlichen müssen sich nicht nur mit Rauschmitteln auseinandersetzen, das Essverhalten wird ebenfalls reflektiert: In der Pubertät entwickeln sie das Bewusstsein für den eigenen Körper. Man will eine gute Figur machen, sich selbst und anderen gefallen. Mit Hanteln werden die Muskeln trainiert, beim Sport purzeln die Pfunde, eine bewusste Ernährung hilft ebenfalls im Kampf gegen überflüssige Kilos. Viele machen aber beim Idealgewicht nicht halt, sie hungern immer weiter oder erbrechen, wenn sie doch mal etwas gegessen haben. 2019 teilte die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung mit, dass etwa ein Fünftel der jungen Menschen in Deutschland im Alter zwischen elf und 17 Jahren Auffälligkeiten in ihrem Essverhalten zeigt. Von allen Formen der Essstörungen sind Mädchen und Frauen deutlich häufiger betroffen als Jungen und Männer. Dr. Heidrun Thaiss: „Nicht jede Person, die beim Essen ab und zu das Maß verliert, ist ernsthaft krank und nicht jede, die mithilfe einer Diät deutlich Gewicht verliert, ist magersüchtig. Wenn bestimmte Faktoren hinzukommen, können solche Verhaltensweisen jedoch der Beginn einer Essstörung sein, die in jedem Fall behandelt werden muss. Der Übergang von einem auffälligen zu einem krankhaften Essverhalten ist oft schleichend."
Häufig müssen die Eltern hilflos zuschauen, wie ihr Kind immer mehr abmagert. Dr. Niethammer erläutert die Hintergründe: Eine Körperschemastörung führt dazu, dass sich die Jugendlichen dick fühlen – obwohl beim Blick in den Spiegel nur noch Haut und Knochen zu sehen sind. Die Mangelernährung führt zu Osteoporose, das Gehirn schrumpft. Die Krankheitsursachen sind vielfältig. Genetische Veranlagungen, Umweltfaktoren, aber auch die Schönheitsideale, die in den Medien vermittelt werden, spielen eine Rolle. Immerhin: Die Barbie-Puppe, die früher viel zu dünn war, hat mittlerweile etwas fülligere Hüften. Bemerken die Eltern das gestörte Essverhalten, müssen sie schnell reagieren, alleine können die Beteiligten das Problem nicht lösen. „Man sollte sich frühzeitig professionelle Hilfe suchen", betont Dr. Niethammer. An den Folgen der schweren psychischen Erkrankung sterben zehn Prozent der Betroffenen.
Obwohl junge Leute selten krank werden, sollten sie den Gesundheitsschutz nicht vernachlässigen. Bei den Jugendvorsorgeuntersuchungen J1 und J2 können Jugendliche sich kostenlos checken und beraten lassen. „Besonders wichtig ist ein guter Impfschutz", erklärt der Jugendarzt. So zum Beispiel der Schutz vor Hepatitis-B-Viren und humanen Papillomviren (HPV), die beim Sex übertragen werden können. Da Humane Papillomviren nicht nur Gebärmutterhals- und Scheidenkrebs, sondern auch Penis-, Anal- sowie Rachenkrebs und außerdem Feigwarzen im Genitalbereich auslösen können, sollten sich Jungen wie Mädchen schon mit neun Jahren impfen lassen, da die Impfung dann besonders gut wirkt. Eine Herausforderung für Jugendliche ist der disziplinierte Umgang mit bereits bestehenden Krankheiten. Diabetes mellitus etwa darf in der Pubertät nicht zur lästigen Nebensache werden. Wird der Blutzucker nicht richtig eingestellt, drohen Folgeschäden an Nieren, Nerven, Augen, Herz und Kreislauf.
Für die Eltern ist es ungewohnt, mit dem Nachwuchs auf Augenhöhe zu diskutieren
Auch im Bereich der Gesundheit gilt: Der Nachwuchs will Verantwortung übernehmen und ernst genommen werden, die Eltern wollen beschützen. Dieser Widerspruch lässt sich nicht ohne Konflikte lösen. Lange Diskussionen sind vorprogrammiert. Während der Pubertät werden die jungen Leute intellektuell immer leistungsfähiger, sie entwickeln Argumente, die Hand und Fuß haben. Für die Eltern ist es ungewohnt, mit dem Nachwuchs auf Augenhöhe zu diskutieren. „Man muss im Gespräch bleiben mit seinen Kindern", rät Dr. Niethammer. Denn ist die Verbindung erst mal gekappt, wird es schwer, Vertrauen wiederaufzubauen. Ein Beispiel: Anstatt hinter dem Rücken des Jugendlichen einen Drogentest zu veranlassen, sollten die Eltern offen kommunizieren, dass sie sich Sorgen machen. Die Jugendlichen sind froh über das Aufzeigen von Grenzen, an denen sie sich reiben können. Es signalisiert ihnen: Da ist jemand, dem ich nicht gleichgültig bin.