Großbritannien plant ein Gesetz zur Verteidigung der Redefreiheit an Universitäten. Vorläufiger Höhepunkt einer langen Entwicklung. Warum Cancel Culture und Political Correctness die Demokratie gefährden.
Der Mensch ist ein kulturelles Wesen, nichts ist ihm wichtiger als seine kulturelle Identität. Nach den Worten des Philosophen Ernest Gellner ist der Mensch nicht loyal gegenüber einem Land oder seinem Glauben, „auch wenn er es noch so sehr behauptet", sondern gegenüber der Kultur. Deshalb sind kulturelle Themen auch besonders umstritten und moralisch aufgeladen. Deshalb wird die Debatte um Identität, Gender, Rassismus und Cancel Culture auch so hitzig geführt.
Dieser Kulturkampf hat viele Facetten, und diese passen gut zur Diversität, die als Überschrift für das brisante Thema gelten kann. Vielfalt bedeutet Abkehr von der archaischen Monokultur des „weißen alten Mannes", der seit ewigen Zeiten die Richtung bestimmte. Sie bedeutet Sichtbarmachung anderer Kulturen, die bislang im Westen keine große Rolle spielten. Sie bedeutet Akzeptanz der Wirklichkeit, also Zuwanderung, die von Kritikern „Massenmigration" genannt wird. Schließlich bedeutet Vielfalt Respekt vor „anderen Orientierungen", wie sie etwa homosexuelle oder „queere" Menschen haben. Ganz gewiss nicht gehört dazu die Cancel Culture, die ausgerechnet im linken Lager Anhänger gewinnt, obwohl sie die Essenz dessen verrät, was eine Demokratie ausmacht: Meinungsfreiheit.
Ein Klima der Angst und Selbstzensur
Es ist vor allem die jüngere Generation, akademisch gebildet und kosmopolitisch orientiert, die sich Diversität und „Geschlechtergerechtigkeit" auf die Fahnen geschrieben hat, die ihre Befindlichkeit in kulturellen Räumen wie Hochschulen, Theatern und (sozialen) Medien zelebriert und psychologisch Druck aufbaut. Davon sind offenbar auch ältere Etablierte so beeindruckt, dass sie sich einschüchtern lassen. Zum Beispiel der Vorstand der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), der sich in atemberaubendem Tempo von seinem Kooperationspartner Dieter Nuhr distanziert hat, nachdem irgendwelche Aktivist*Innen den Kabarettisten mit einem Shitstorm überzogen haben. Ein klassischer Fall von Cancel Culture.
Der Fall Nuhr ist indes kaum der Rede wert gegen die Entwicklung in den USA, Australien oder Großbritannien, die immer mehr den Kern der westlichen Demokratie bedroht. In England etwa hat die Denkfabrik Policy Exchange ein „Klima der Angst" im akademischen Bereich konstatiert, das zunehmend zur Selbstzensur führe: Wissenschaftler trauten sich nicht mehr, eine abweichende Meinung zu äußern oder gar zu veröffentlichen. In den USA verlieren Redakteure (der „New York Times" ) oder Professoren (der Stanford University) ihren Job oder ihr Renommee, weil sie sich angeblich einer „Mikroaggression", „sexistischer" oder „rassistischer Sprache" schuldig gemacht haben.
Natürlich kann man fragen, wie ernst man es nehmen muss, wenn linksidentitäre Aktionsgruppen gegen die „afrikanischen" Zöpfe von Rihanna protestieren, den Koch Jamie Oliver anklagen, weil er „jamaikanischen Reis" kocht oder wenn Aktivisten in der Mensa danach fahnden, ob es sich bei der Verköstigung mit Asia-Gerichten um „kulturelle Aneignung" handelt. Das Clowneske an solchen Fragen schlägt jedoch schnell in bitteren Ernst um, wenn man die Fanatiker gewähren lässt. Auch in Deutschland versuchen linke Studentengruppen, unliebsamen Professoren oder Referenten durch Störaktionen den Mund zu verbieten (in Hamburg, Berlin, Dresden, Göttingen), ja man soll nicht einmal mehr über bestimmte Themen wie das muslimische Kopftuch diskutieren dürfen (Uni Frankfurt).
Doch das brisante Thema hat noch Weiterungen und Verflechtungen, etwa im Genderbereich. So nutzen im WDR (auch im ZDF, DLF und anderen Sendern) prominente Medienschaffende ihre privilegierte Stellung, um im öffentlich-rechtlichen Rundfunk „diskriminierungsfrei" zu sprechen – und die Bevölkerung dabei in ihrem Sinne zu erziehen, obwohl sie dafür weder eine politische noch demoskopische Legitimation haben: Auch nach der x-ten Umfrage lehnt eine deutliche Mehrheit in der Bevölkerung die Gendersprache ab. Wobei es in Deutschland im Vergleich zu Kanada oder Australien noch harmlos zugeht: In Kanada ist die Pflichtansprache für diverse Menschen sogar gesetzlich geregelt, in Australien gibt es neuerdings „Leitlinien" für die gendergerechte Sprache in einer Form, die sprachlos macht: Die ewigen Begriffe „Mutter" und „Vater" sollen in offiziellen Dokumenten durch „austragendes Elternteil" und „nicht-gebärendes Elternteil" ersetzt werden (Empfehlung der University of Canberra). Nun gab und gibt es in allen Bereichen des Lebens schon immer Pioniere (und Pionierinnen!) aus der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Elite, die Innovationen vorangetrieben haben. Doch die Meinungsfreiheit als eines der höchsten Verfassungsgüter (Art 5 GG) und die Sprache, die eigentlich dem Volk gehört, sind systemrelevant und damit viel zu wichtig, um die Entwicklung einfach treiben zu lassen. Es liegt auf der Hand, dass Redeverbote oder „Neusprech" die Gesellschaft noch weiter spalten, in „Fortschrittliche", und jene, die angeblich „zurückgeblieben" sind. Auch deshalb melden sich jetzt kritische Geister zu Wort, wie etwa die französische Feministin und Journalistin Caroline Fourest, die (in der Frauenzeitschrift „Emma") vor einer „Kulturpolizei" warnt, die mit „inquisitorischen Methoden" versuche, die Oberhand über die Kultur zu gewinnen.
Meinungsfreiheit ist für Demokratie systemrelevant
Tatsächlich ist die Lage ernst. Die Menschen beginnen (unbewusst) abzuwägen, ob sie bestimmte Aussagen noch tätigen dürfen, ohne Nachteile befürchten zu müssen. Der trotzige Satz „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen!" ist allenfalls noch von der AfD zu hören, im Bürgertum wird er von lautem Schweigen übertönt. Das Allensbach-Institut hat registriert, dass mehr als zwei Drittel der Bundesbürger in der Öffentlichkeit lieber Vorsicht walten lassen, vor allem bei heiklen Themen wie Zuwanderung, Islam oder Rechtsextremismus. Dabei hat sich die früher so liberale „Zeit" nicht gescheut, diese Umfrage in ein fahles Licht zu rücken und zu behaupten, damit würden „rechte Ressentiments" bedient. Mit genau diesem Argument wollen linke Studentengruppen auch „rechte" Politiker und Professoren am Reden hindern. Was sie dabei verdrängen: Es ist das gleiche Muster, mit dem totalitäre Staaten die Meinungsfreiheit einschränken und Dissidenten verfolgen.
Immerhin, der britische Bildungsminister Gavin Williamson hat die Nase voll von der Bevormundung der Mehrheit durch eine hypersensible Minderheit, die ein unerträgliches Maß an Intoleranz erzeugt habe. Er will das „Mundtotmachen und Zensieren" an den Universitäten stoppen und hat deshalb ein Gesetz angekündigt, das die Redefreiheit stärken und die Cancel Culture eindämmen soll. Es geht sogar ohne Gesetze, wie die Elite-Universität Cambridge zeigt, die in ihren Leitlinien über den Umgang miteinander das Wörtchen „respektvoll" durch „tolerant" ersetzt hat. Dieser Kniff macht es den Studenten schwerer, unliebsame Gastredner mit dem Verweis auf die Leitlinien ausladen zu können. Auch deutschen Hochschulen stünde es gut zu Gesicht, nicht länger mit dem Florett zu parieren, wenn identitäre Linke in jakobinischem Eifer den Bogen überspannen und mit dem Säbel die Meinungsfreiheit anfechten.
Ihre Haltung überdenken könnten durchaus auch die klassischen Leitmedien, die in klammheimlicher Sympathie für politisch korrekte Avantgardisten als analoge Resonanzverstärker dienen und damit Shitstorms erst politische Wucht verleihen. Ein Schuft, wer Böses dabei denkt, dass nach einer Analyse der Universität Leipzig „eine deutliche Mehrheit" der Journalist*Innen im linken Spektrum zu verorten ist. Besser wäre es in diesem Kontext ohne Zweifel, wenn auch in den Redaktionen die politische Realität etwas proportionaler abgebildet würde. Dann könnten sich dort auch jene Bürgerinnen und Bürger wiederfinden, die den Medien vorwerfen, nicht (mehr) fair und ausgewogen zu berichten.