Es wird Zeit, endlich den Blick wieder nach vorne zu richten
In gewisser Hinsicht ist es aktuell einfach, die Reste politischen Interesses, zu dem man sich aufraffen kann, auf ein Thema zu fokussieren und es damit auch gut sein zu lassen: Corona überdeckt alles, dominiert jedes Gespräch und findet breiten Raum in der öffentlichen Berichterstattung. Das ist gleichermaßen nachvollziehbar wie ermüdend, denn trotz des sehr beharrlichen „News Cycle", den das Virus immer wieder aufs Neue auslöst, nutzt es sich irgendwann ab.
Es verstellt auch manchmal die Sicht auf die Tatsache, dass noch mehr passiert, und dass diese Ereignisse sich wieder kraftvoll in den Vordergrund drängen werden, sobald wir – hoffentlich bald! – die Pandemie einigermaßen unter Kontrolle haben. Dann werden wir erneut mit der Fülle an Themen und vor allem Krisen erschlagen, die wir aktuell manchmal mit einer unterschwelligen Erleichterung zu verdrängen scheinen.
Dafür genügt es bereits, vor der eigenen Haustür zu kehren. Neben wichtigen Landtagswahlen, die uns erneut einen Indikator für die Virulenz des politischen Rechtsradikalismus in Deutschland geben werden, steht auch eine Bundestagswahl an. Derzeit rumort es am Rande um die Frage, ob Herr Laschet nun Kanzlerkandidat sein wird oder Herr Söder, während die 15-Prozent-Partei SPD einen Kanzlerkandidaten aufgestellt hat, der als solcher in etwa auf dem gleichen Niveau wahrgenommen wird wie der wahrscheinliche Spitzenkandidat der FDP.
Aber so richtig ist der Wahlkampf und die durchaus mögliche historische Weichenstellung, die damit verbunden ist, noch nicht im öffentlichen Bewusstsein angekommen. Spätestens im Sommer wird sich uns dieses Thema nicht nur aufdrängen, wir werden möglicherweise vor der Erkenntnis stehen, dass wir zu einer Wahl aufgerufen werden, über die wir uns im Vorfeld etwas zu wenige Gedanken gemacht haben.
Greta Thunberg und die Fridays-for-Future-Aktivistinnen und -Aktivisten lassen auch während der Pandemie nicht locker, müssen aber feststellen, dass ihr Anliegen aktuell stark in den Hintergrund gerückt ist. Corona aber hat gezeigt, was passiert, wenn man als internationale Staatengemeinschaft nicht rechtzeitig und effektiv agiert, und exakt dieses Schicksal, verbunden mit noch größerem potenziellem Schaden, steht uns auch angesichts der Klimakatastrophe bevor. Wir werden daran erinnert werden, spätestens dann, wenn die jungen Leute – weiterhin ernüchtert von der kollektiven Handlungsunfähigkeit der Regierenden – wieder auf die Straße gehen.
Dass Diktaturen sich von internationalen Krisen nicht davon ablenken lassen, ihren Herrschaftsanspruch zu sichern, sondern diese Situation sogar manchmal zu ihrem Vorteil zu nutzen versuchen, bekommen wir auch aktuell vorgespielt. Wir können eine lange Liste mit großen und kleineren Ländern aufmachen, deren Menschenrechtsverletzungen und systematische Ausschaltung freier Meinungsäußerung uns wehtun sollten: Weißrussland, die Russische Föderation, China, Myanmar, Venezuela und Mali (nur eine Auswahl) haben sich offen dem Autoritarismus oder gar dem Totalitarismus zugewandt, und andere Staaten wie Ungarn, Polen und Brasilien liebäugeln mit ihrer eigenen Variante.
Dass die USA noch einmal den Absprung geschafft haben, ehe auch sie diesen unheilvollen Pfad entlanggeschritten wären, ist für den Moment beruhigend, aber es ist nur eines der zahlreichen Feuer, die erst einmal ausgetreten wurden.
Drei Themenbereiche, und damit nur drei von vielen mehr. Nicht alles muss erneut in Katastrophen und Dauerkrisen enden: Corona hat auch den Überlebenswillen, den Einfallsreichtum, die Solidarität und das Durchhaltevermögen menschlicher Zivilisation unter Beweis gestellt. Wenn wir auf diese positiven Erfahrungen aufbauen können, ist auch in den anderen Krisenfeldern dieses Planeten keinesfalls schon alles verloren.
Es wird aber Zeit, dass wir uns durch die Corona-Krise nicht mehr selbst den Blick auf die anderen Probleme der Welt verstellen. Wenn wir zu lange nicht hingucken, überlassen wir denen das Spielfeld, denen alles egal ist und die nur an ihre eigenen, meist eher kurzfristigen Machtinteressen denken. Es ist anstrengend, den Kopf zu heben und über den Impftermin hinaus zu denken. Wir müssen jetzt aber wirklich damit anfangen.