Nicht alles, woran wir uns erinnern, ist wahr. Manches hat anders oder gar nie stattgefunden. Das kann vor Gericht oder in Therapien fatale Folgen haben. Dieses Phänomen wurde erforscht und nennt sich Scheinerinnungen.
Erinnerungen bestimmen unsere Realität. Meistens glauben wir, dass auf unser Gedächtnis Verlass ist und wir uns deshalb richtig erinnern. Eine Tat gestehen, die wir nicht begangen haben? Unmöglich. Sich erinnern, wie wir Opfer eines Gewaltverbrechens wurden, das es nie gab? Undenkbar. Doch unser Gedächtnis täuscht uns häufiger als wir denken.
Die englische Psychologin Julia Shaw bringt in ihrer Forschung Versuchspersonen dazu, sich an Ereignisse zu erinnern, die nie geschehen sind. Vom Verlust einer großen Geldsumme, über den Angriff eines Hundes bis zu einer Auseinandersetzung mit der Polizei. Dabei lernt sie, wie unser Gedächtnis funktioniert und vor allem, wie oft es sich irrt. Für ihre Studie „Constructing Rich False Memories of Committing Crime" etwa hat sie vorgegeben, eine Untersuchung über emotionale Ereignisse in der Kindheit durchzuführen. Ihre Probanden, die allesamt Studenten waren, bat sie, ihr die Kontaktinformationen ihrer Eltern zu geben. Die Eltern erhielten daraufhin einen Fragebogen, in dem sie Auskunft darüber gaben, welche starken emotionalen Ereignisse im Leben ihrer Söhne und Töchter zwischen dem 11. und 14. Lebensjahr stattgefunden hatten. Damit die Studenten für die Studie infrage kamen, mussten sie innerhalb dieser vier Jahre ein starkes emotionales Ereignis erlebt haben, zum Beispiel war der Familienhund gestorben. Außerdem durften sie niemals mit der Polizei in Kontakt geraten sein. Wer alle Voraussetzungen erfüllte, wurde ins Labor geladen, um drei Gespräche über die emotionalen Ereignisse aus ihrer Kindheit zu führen. Das aber war nur ein Vorwand, denn in Wahrheit ging es darum, die Probanden davon zu überzeugen, sie hätten eines der Ereignisse erlebt, die ihnen nach einem Zufallsverfahren zugeteilt worden waren. Insgesamt gab es sechs mögliche Ereignisse, die erinnert werden sollten: Die Probanden hatten sich stark verletzt, sie waren von einem Hund attackiert worden, sie hatten eine große Summe Geld verloren, sie hatten etwas gestohlen, jemanden geschlagen, oder jemanden mit einer Waffe attackiert. Bei den drei kriminellen Vorfällen wurde den Probanden außerdem gesagt, ihre Eltern hätten von dem Delikt gewusst, weil die Polizei sie kontaktiert hätte. Tatsächlich hatten diese Ereignisse aber den Eltern zufolge im Leben ihrer Kinder nie stattgefunden. Konnte sich deren Gedächtnis so leicht täuschen lassen?
Tatsächlich: 70 Prozent von ihnen waren nach drei Sitzungen überzeugt, sie hätten eine der drei Straftaten begangen. Und 76 Prozent glaubten, sie hätten eines der drei emotionalen Ereignisse erlebt. Möglich war das Shaw zufolge durch sogenannte kreative Suggestion. Die Psychologin hatte das Vertrauen der Probanden gewonnen, indem sie die Versuchspersonen rund 20 Minuten über ein echtes Erlebnis aus ihrer Kindheit berichten ließ. Im Anschluss hatte sie diese mit dem erfundenen Zielereignis konfrontiert und sie vorsichtig gefragt, wie sich dieses angefühlt habe. In den drei Gesprächen gruben die Probanden immer mehr der angeblich verschütteten Erinnerungen aus. Es entstanden in kürzester Zeit falsche Erinnerungen voller bunter Details, die sich für die Teilnehmer echt anfühlten. Shaw geht davon aus, dass die Grenze zwischen Einbildung und Erinnerung fließend ist und das Gehirn beides immer wieder vertausche.
Verdrängt oder doch niemals erlebt?
Auch im Rahmen von Psychotherapien können solche Scheinerinnerungen entstehen. So berichteten in den 80er- und 90er-Jahren ungewöhnlich viele erwachsene Patienten ihren Therapeuten, in ihrer Kindheit sexuell missbraucht worden zu sein oder ein anderes Trauma erlitten zu haben. Nicht wenigen war nie zuvor bewusst gewesen, diese furchtbaren Erfahrungen gemacht zu haben. Psychologen folgerten, sie müssten die Erinnerung in der Zwischenzeit verdrängt haben. Diese Erklärung aber wurde 1995 von einer Forschungsgruppe rund um die Psychologin Elizabeth Loftus ins Wanken gebracht. Die Wissenschaftler hatten im Rahmen einer Studie erwachsene Probanden nach Erinnerungen an vier Kindheitsereignisse befragt. Eines davon hatte allerdings nie stattgefunden. Demnach sind die Teilnehmer im Alter von fünf Jahren vorübergehend verschwunden gewesen – etwa als Eltern und Kind gemeinsam ein Einkaufszentrum besuchten. Ein Viertel der Probanden glaubte, dass sie diese Erfahrung tatsächlich gemacht hatte. Wie Julia Shaw hatten auch diese Psychologen suggestive Fragetechniken genutzt, und ein Teil der Versuchspersonen hatte daraufhin Scheinerinnerungen entwickelt.
Untersuchungen anderer Wissenschaftler zeichneten ein ähnliches Bild. Die britischen Psychologen Chris Brewin und Bernice Andrews hatten sich in einer Übersichtsstudie viele dieser Untersuchungen angeschaut und kamen zu dem Schluss, dass sich bei etwa 15 Prozent der Probanden Scheinerinnerungen installieren lassen. Eine Forschergruppe um den kanadischen Psychologen Alan Scoboria geht sogar von 30 Prozent aus. Die Folgen können gravierend sein. So geschehen beispielsweise von 1994 bis 1997 in den Wormser Prozessen, die als die drei größten Missbrauchsprozesse in der jüngeren Rechtsgeschichte gelten. Damals hatten mehrere Kinder nach intensiven Verhören mit einer Religionspädagogin 25 Menschen des sexuellen Missbrauchs bezichtigt. Jahrelang hielt man sie für Opfer sexuellen Missbrauchs, der zigfach durch Eltern, Onkel, Tanten, Großeltern, Geschwister und Unbekannte begonnen worden sein sollte. Die Kinder wurden daraufhin von ihren Familien getrennt und kamen ins Heim. Die Beschuldigten landeten für Jahre im Gefängnis. Der letzte der drei Prozesse aber wurde mit einem klaren Urteil beendet: „Massenmissbrauch hat es in Worms nie gegeben." Vielmehr stellte sich heraus, dass die Kinder manipuliert und die Aussagen vorgegeben wurden. Damals wurde dem Jugendamt unter anderem ein Gutachten des psychologischen Sachverständigen Professor Burkhard Schade vorgelegt, in dem wissenschaftlich fundiert ausgeführt wurde, dass die gesamten Aussagen der Kinder zum angeblichen Missbrauchsgeschehen auch durch suggestive Beeinflussung zu erklären seien. Andere Sachverständige wie der Professor für Forensische Psychologie, Max Steller, oder die Psychologin Marie-Luise Kluck stimmten der Einschätzung zu. Alle drei Wissenschaftler gaben an, dass den Kindern mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit überhaupt nichts geschehen sei. Steller zufolge machte die Art der Geschichten deutlich, dass es sich um eingepflanzte Erinnerungen handelte. Die Storys wären immer weiter entwickelt worden, bis zu absurden Abläufen, die zum Teil gar nicht passiert sein konnten. Die Kinder hätten gar erzählt, die Soldaten des Bundeskanzlers seien anmarschiert, um sie zu missbrauchen. Ihm zufolge sind gerade absurde Geschichten gut geeignet, um Scheinerinnerungen zu entlarven. Aber auch die Entstehungsgeschichte der Aussagen gelte es zu beachten. Oft nähmen sie in der Psychotherapie ihren Anfang. Falsche Erinnerungen kämen häufig bei zweifelhaften aber auch bei studierten Therapeuten. Steller hat 2015 sein Buch „Nichts als die Wahrheit. Warum jeder unschuldig verurteilt werden kann" veröffentlicht und in einem Interview mit dem SWR angegeben, dass Therapeuten durch Gutachten immer öfter in die Bredouille kämen: „Wir haben inzwischen nicht wenige Fälle der wiedererlangten, richtigen Erinnerung. Was dann natürlich ein Problem ist für die vermeintlichen Helfer. Nämlich Prozesse gegen Therapeuten, weil sie falsche Erinnerungen induziert haben."
Prozesse bei induzierten Scheinerinnerungen
Renate Volbert ist Professorin für Rechtspsychologie an der Psychologischen Hochschule Berlin. Sie beurteilt die Glaubhaftigkeit von Aussagen in Strafverfahren und forscht zu Suggestion. Gegenüber „Spektrum der Wissenschaft" erklärte sie: „Scheinerinnerungen entstehen in der Regel nicht, weil ein Therapeut den Plan hat, sie zu erzeugen. Und sie entstehen weder schnell noch in der Mehrheit der Psychotherapien. Sie können aber das Ergebnis einer Verkettung von Umständen sein." Volbert hält es für schwer, Scheinerinnerungen von echten Gedächtnisinhalten zu unterscheiden. Das hängt damit zusammen, dass Scheinerinnerungen weder detailreicher noch undeutlicher seien. Und sie erzeugten ähnliche Gefühle, könnten sogar Symptome einer Posttraumatischen Belastungsstörung auslösen. Nur in Ausnahmefällen, etwa wenn objektive Fakten das Gegenteil belegen, seien sie eindeutig als falsch zu enttarnen. So könnten sich Menschen beispielsweise nicht an Ereignisse erinnern, die in ihren ersten zwei Lebensjahren stattgefunden haben. Forscher bezeichnen dieses Phänomen auch als Kindheitsamnesie.
Psychologen der Pennsylvania State University konnten zeigen, dass auch die Hirnforschung nur bedingt hilfreich beim Entlarven der Scheinerinnerungen ist. In einer Metaanalyse schauten sie sich Studien an, die mit funktioneller Magnetresonanztomografie durchgeführt wurden. Das Ergebnis: In einigen Fällen wurden falsche Erinnerungen etwas langsamer abgerufen als echte und die Probanden waren sich im Schnitt etwas weniger sicher, die Ereignisse tatsächlich erlebt zu haben. Waren die Probanden hingegen vollkommen überzeugt, dass sich ein Geschehen abgespielt hatte, konnten die Forscher keine neuronalen Unterschiede mehr im Gehirn festmachen.
Volbert schaut deshalb vor allem darauf, wie Erinnerungen zustande kamen und ob es Einflüsse gab, die eine Scheinerinnerung gefördert haben könnten. Insbesondere die Annahme, dass man sich an schwerwiegende Traumata häufig nicht erinnern könne, hält sie für problematisch. Nichterinnern ist ihr zufolge keine typische Folge eines Traumas. Dass man sich in Einzelfällen an traumatische Erlebnisse länger nicht erinnern könne und diese durch eine Konfrontation mit einem Auslöser zurückkämen, hält sie für möglich und appelliert deshalb zu unterscheiden: lange nicht an etwas zurückgedacht zu haben, sei etwas anderes, als es völlig neu zu entdecken. „Klienten und Therapeuten sollten wissen, dass es Scheinerinnerungen geben kann. Und dass man insbesondere vorsichtig sein sollte, nach Erinnerungen zu suchen. Sonst bringt man Menschen möglicherweise in furchtbare Biografien", erläutert die Professorin.