Jürgen Trittin (Grüne) war von 1998 bis 2005 Bundesumweltminister. Er war maßgeblich daran beteiligt, das Atomausstiegsgesetz zu formulieren. Nach Fukushima hat es die Merkel-Regierung übernommen und umgesetzt.
Herr Trittin, wie haben Sie auf die Fukushima-Katastrophe reagiert, die ja schließlich zum Atomausstieg führte?
Erst einmal habe ich mich fürchterlich erschreckt, weil wir kaum glauben konnten, dass in einer technisch so fortgeschrittenen Nation so eine Havarie passieren könnte. Damit haben nicht mal wir AKW-Gegner gerechnet. Die ersten Signale, die von der Bunderegierung kamen, waren: Wir machen weiter wie bisher. Das hat sich aber dann über das Wochenende hinweg geändert.
Sie waren damals Fraktionsvorsitzender der Grünen – was haben Sie Ihrer Fraktion gesagt?
Ich wollte, dass wir das nicht aus Prinzip blockieren, wenn die schwarz-gelbe Koalition zu unserem eigenen Gesetz zurückkehrt, sondern dem zustimmen. Aber weil sie zwischendurch eine Laufzeitverlängerung durchgesetzt hatte, war das natürlich nicht so einfach.
Relativ bald wurde der Bundes-regierung vorgeworfen, dass sie zu schnell und schlecht vorbereitet gehandelt hat. Was wäre die Alternative gewesen?
Die Alternative wäre gewesen, darauf zu verzichten, nicht das rot-grüne Gesetz zum Atomausstieg, das mit Zustimmung der Industrie formuliert worden war, rückabzuwickeln. Der Kladderadatsch hat ja nicht mit Fukushima angefangen, sondern damit, dass Angela Merkel gegen den wütenden Widerstand der Anti-AKW-Bewegung die Laufzeiten verlängert hat und damit versucht hat, den Atomausstieg ein Stück weit rückgängig zu machen.
Aber ohne Fukushima keine Energiewende?
Die von uns 2001 eingeleitete Energiewende beruhte auf dem Ausstieg aus der Atomenergie und dem Einstieg in die erneuerbaren Energien. Frau Merkel wollte den Ausstieg verzögern. Den Erneuerbaren wurden Hürden in den Weg gelegt. Doch unser EEG-Gesetz hat mittlerweile drei große und eine schwarz-gelbe Koalition überlebt. Und die Entwicklung ging schneller als alle dachten. Damals haben wir im EEG festgelegt, dass 2020 etwa 20 Prozent des Stroms aus den Erneuerbaren erzeugt werden soll, das entsprach dem Atomanteil zum Zeitpunkt des Ausstiegsgesetzes. Heute sind wir tatsächlich bei 50 Prozent.
2015 waren Sie Vorsitzender der „Kommission zur Überprüfung der Finanzierung des Kernenergieausstiegs". Ergebnis war, dass die Konzerne RWE, E.on, Vattenfall und EnBW 23 Milliarden für die Endlagerung zahlen sollten. Reicht das?
Bisher gibt es dafür keine Anzeichen, dass es nicht reicht. Was ich damals aber wusste, ist, dass die 17 Milliarden, die die Industrie auf dem Papier zurückgestellt hatte, nicht reichen würden – das waren nur Buchungen, kein Cash. Deswegen haben wir das Geld nicht als Buchung, sondern mit einem zusätzlichen Risikoaufschlag von einem Drittel in Cash verlangt. Der Fonds wirtschaftet heute mit einer Rendite, die besser ist, als wir damals je geglaubt haben.
Aber die Endlagerung wird uns Tausende Jahre beschäftigen …
Die Kalkulation ist die, dass binnen 60 Jahren bis 2050 ein Endlager zur Verfügung steht, das 30 Jahre nach der Eröffnung befüllt und verschlossen ist. Die Kosten dafür sind insgesamt rund 190 Milliarden, und die erreichen wir durch die Verzinsung des Fonds mit den 23 Milliarden.
Mittlerweile fordern einige „Klimaretter", die AKW weiterlaufen zu lassen. Hilft Atomkraft gegen den Klimawandel?
Das überfordert die Atomkraft. Vier Prozent der Weltenergie kommt aus Atomkraft, also aus etwa 400 AKWs weltweit. Da kann man sich leicht ausrechnen, wie viele Kernkraftwerke man bauen müsste, um nur 50 Prozent der Weltenergie mit Atomkraft zu erzeugen. Das würde irre Mengen an Uran kosten und die Strompreise explodieren lassen. Wir sind heute bei fünf Cent pro Kilowattstunde bei Solar und Windkraft, aber bei über 20 Cent bei Atom. Das ist der Grund, weswegen seit 1976 in den USA, seit Harrisburg, kein Atomkraftwerk mehr gebaut wurde. Sie sind zu teuer, zu gefährlich und zu langsam, weil die Planung 20 Jahre dauert. Bei Windkraft sind Sie in fünf Jahren durch.
Immer noch wird vor Gericht um Ausgleichzahlungen gestritten. Was wird der Ausstieg noch kosten?
Das hängt auch von Marktpreisen ab, Strom ist im Preis gesunken. Das Bundesumweltministerium hat den Schadensausgleich – wenn überhaupt – im kleineren dreistelligen Millionenbereich angesiedelt. Der Streit ist offen, die Verantwortung dafür trägt Angela Merkel, denn in unserem rot-grünen Gesetz damals waren solche Schadenersatzansprüche nicht vorgesehen. Erst die Laufzeitverlängerung hat diese Rechtsansprüche erzeugt.
2022 will die Bundesregierung den Ausstieg vollzogen haben. Sollte man sich darauf nicht freuen?
Ja, da kann man sich schon freuen, weil damit ja auch die Produktion von Atommüll abgeschlossen sein wird. Erst dann ist klar, mit viel Müll wir es zu tun haben werden.