Eingemauerte Kandidaten, Parteien, die sich benehmen, als wären sie schon an der Regierung, ein Wahlkampf, bei dem mehr Briefwähler abstimmen als jemals zuvor – Philip Manow, Politikwissenschaftler an der Uni Bremen, hat sich seine eigenen Gedanken zum Wahljahr 2021 gemacht.
Herr Manow, alle Parteien drängeln sich in der „Mitte", ein bisschen links oder rechts davon. Welchen Einfluss hat das auf die Wahlentscheidung?
Nun – erstens gibt es eine Partei, die sich ganz bestimmt nicht in die Mitte drängelt. Insofern stimmt schon der Befund nicht ganz. Zweitens, so der Eindruck, hängt die Positionierung der anderen Parteien vor der Wahl ab von ihren präferierten Koalitionen nach der Wahl. Die Grünen benehmen sich ja jetzt schon wie eine Regierungspartei und fallen als Opposition weitgehend aus. Die FDP hingegen, für die sich momentan keine Option mit der Union zu eröffnen scheint, wird in ihrer Kritik der Regierungspolitik immer schneidender. Die SPD schließlich betreibt aus der Regierung heraus Oppositionspolitik, weil man nie, nie, nie wieder in das Gefängnis einer Großen Koalition will. Was die Wähler mit einer solchen Konstellation wohl anfangen?
Alle Parteien formulieren mehr oder weniger ausführliche Programme – vor allem der SPD scheint das besonders wichtig? Aber erreichen sie damit die Wählerinnen und Wähler?
Die Zahl derjenigen, die Wahlprogramme von vorn nach hinten durchlesen, dürfte sehr überschaubar sein. Selbst als jemand, der es professionell mit Politik zu tun hat, würde ich mir so etwas normalerweise nicht antun. Wahlprogramme sind meist eher intern wirksame Verbindlichkeitserklärungen und Balancierungen – jede Strömung möchte ihren Lieblingspunkt unterbringen, alle Fachpolitiker mit ihren Wünschen Berücksichtigung finden – als nach außen strahlende Werbeträger. Dafür gibt es ein möglichst eingängiges Wahlkampfmotto und eingeübte Kandidatenreden. Die Parteien machen sich da, glaube ich, keine Illusionen – da geht niemand von aus, dass das jemand liest.
Welchen Einfluss haben die Köpfe, die persönlichen Sympathiewerte?
Man sagt: einen immer stärkeren. Wir haben es mit der Personalisierung von Politik zu tun, was mit ihrer Medialisierung zusammenhängt.
Merkel sagte bei der letzten Wahl nur: „Sie kennen mich." Was blüht der CDU, wenn sie jetzt ohne sie antreten muss?
Markus Söder meinte kürzlich, wer Merkel-Stimmen wolle, müsse Merkel-Politik betreiben. Das vergisst, dass die Union –
bevor Corona unser Leben bestimmte – im Jahr 2019 kontinuierlich unter 30 Prozent geblieben war, in einzelnen Umfragen rangierten die Grünen sogar schon vor der CDU. Es war ein stetiger Niedergang, und die Kanzlerin hieß: Merkel. Erst Corona hat hier einen starken Stimmungsumschwung gebracht, weil es so erschien, als ‚könne‘ die CDU, und insbesondere Merkel ‚Krise‘. Dieser Eindruck hat sich nun doch ganz erheblich eingetrübt. Es sieht also so aus, als wenn die CDU auch noch mit der Kanzlerin eher schwach ins Wahljahr geht. Viel von dem Zuspruch, den die Partei seit dem Frühjahr 2020 erhalten hatte, ist zumindest nun schon wieder aufgebraucht.
Die SPD hat frühzeitig Olaf Scholz als Kanzlerkandidat ausgerufen. Hat ihr das etwas genutzt? Kommt sie damit aus dem 15-Prozent-Getto raus?
Es sieht nicht so aus. Wobei der Kandidat eingemauert erscheint durch eine Parteiführung, die ja als direkte Konkurrenz und in scharfer Abgrenzung zu ihm selbst den Parteivorsitz errang. Das ist die völlig verkorkste Ausgangssituation, die die SPD dem besonderen taktischen Geschick eines Kevin Kühnert zu verdanken hat.
Oder muss sie sich eher von der Linken abgrenzen?
Irgendwann vor langer, langer Zeit hätte die SPD mal anfangen können, das deutsche Beschäftigungswunder nach 2005 für sich zu reklamieren – und das mit viel Berechtigung. Aber das wurde nie ernsthaft versucht. Insofern: Nein, für Abgrenzung ist jetzt zu spät.
Wenn es um Sympathiewerte geht – sollen die Grünen lieber eine Frau oder einen Mann aufstellen?
Das kann ich nicht sagen – und die Leser dürften jetzt rätseln, ob sie es mit einem Grünenstammwähler zu tun haben, der – no matter what – immer grün wählt, ob nun mit Spitzenkandidatin oder mit Spitzenkandidat, oder mit jemandem, der sie nie wählt, egal ob eine Kandidatin oder ein Kandidat vorne steht.
Der Wahlkampf wird ganz oder teilweise unter Corona-Bedingungen stehen, also keine Großveranstaltungen, keine persönlichen Begegnungen, keine oder kaum Stände in der Innenstadt, und so viele Briefwähler wie nie. Welchen Einfluss hat das auf die Entscheidungen der Wählerinnen und Wähler?
Dazu gibt es noch relativ wenig gesichertes Wissen. Recht eindeutig ist, dass in Corona-Zeiten die Wahlbeteiligung sinkt und der Briefwahlanteil steigt. Beides verteilt sich nicht gleichmäßig über die gesellschaftlichen Gruppen. Wahlbeteiligung geht überproportional in den Gruppen mit weniger Bildung und weniger Einkommen zurück, Briefwahl wird überproportional von den Gruppen mit höherer Bildung und höherem Einkommen genutzt. Daher wird die demokratische Repräsentation 2021 wahrscheinlich ungleicher als zuvor sein – und diejenigen, die sowieso schon im Nachteil und auch von Covid-19 stärker betroffen sind, werden es auch schwieriger haben, ihre Interessen politisch repräsentiert zu sehen.