Wie der Verlust eines Traurings einen Ehemann in eine Sinnkrise stürzen kann
Der Tag, an dem ich meinen Trauring verloren habe, sollte meine Einstellung zum Wert von materiellen Dingen verändern. Nun ist das Leben eines Kolumnen-Schreibers in Pandemie- und Lockdown-Zeiten eher kontakt- und erlebnisarm. Aber dieser Verlust stürzte mich in eine mittelschwere Sinnkrise. Als mir während eines Spaziergangs in einem städtischen Naherholungsgebiet mit einem Schlag bewusst wurde, dass der sattgelbe Ring nicht mehr am Ringfinger meiner rechten Hand steckte, kam ich mir nackt vor.
Als würden für einen Moment die eigenen Eingeweide nach unten sacken und unangenehm auf die Blase drücken – so fühlte sich der Moment an, als ich den Verlust bemerkte. Ich versuchte erst mal auf Coolness-Modus umzuschalten: Sicherlich findest du den Ring wieder, redete ich mir ein. Bestimmt ist er dir letzte Nacht im Schlaf vom Finger gerutscht und in die Bett- oder Sofaritze hineingekullert. Doch die innere Gelassenheit hielt nicht lange, denn ich fragte mich, was ich nun ohne Ehering bin: ein Ehemann zweiter Klasse? Einer, von dem man denken könnte, dass er überhaupt nicht verheiratet ist und quasi in wilder Ehe mit Frau und zwei Kindern zusammenlebt? Und was – außer vielleicht dem Smartphone – sollte mich fortan an den Hochzeitstag erinnern? Das eingravierte Datum an der Ringinnenseite diente mir als zuverlässige Erinnerungsstütze.
Das gute Stück habe ich allerdings bis heute nicht gefunden – weder entlang der Wegroute, noch im Umkreis der Altpapiercontainer. Ebendort hatte ich am gleichen Tag Kartons zerkleinert, und dabei war es passiert – denke ich zumindest. Meine Hypothese: Ich hatte beim Zerreißen der Pappe den Ring abgestreift und so war dieser in den Containerschlund hineingefallen. Wenn nicht ich den Ring wiederfinde, dann wohl jemand anders. Ich klebte Handzettel an Müllcontainer und Straßenschilderpfosten, winkte dem fiktiven Finder mit einer Belohnung, aber bis heute meldete sich niemand. Vielleicht hätte ich besser eine konkrete Summe angeben sollen, um potenzielle Ehering-Suchtrupps zu mobilisieren? Möglicherweise hat längst jemand meinen Trauring an sich genommen und sich gesagt: „Wer weiß, was für ein läppischer Finderlohn da für mich rausspringt".
Meine Partnerin nahm die Tatsache, dass ich von jenem Tag an ein eheringloses Dasein fristete, gefasst auf. Einmal sagte sie en passant „Du Eheringverlierer" zu mir, was sich für mich fast wie „Du Ehebrecher!" anhörte. Das versetzte mir einen kleinen Stich. Aber wegen dieses Makels eine Selbsthilfegruppe ins Leben zu rufen und sich mit anderen gebeutelten Eheringverlierern über die lästige Angewohnheit, Dinge zu verlieren, auszutauschen, schien mir doch zu weit hergeholt. Die Kommentare der Arbeitskollegen waren entweder gut gemeint („Frag mal unbedingt beim Fundbüro der Stadt nach"), belustigt („Da freut sich jetzt irgendein Kind in Afrika über Deinen Ring, das auf einer Müllhalde spielt") oder hämisch („Ich habe Deinen Ring gefunden und bin jetzt mit Deiner Frau verheiratet").
Dabei war die Lösung dieses Dilemmas so einfach: Ich werde einfach bei der staatlich geprüften Goldschmiedemeisterin nachfragen, ob sie mir das Unikat nachmachen kann. Frau S. antwortete prompt – und teilte mir zur Erleichterung mit, dass Eheringe gar nicht so selten verloren gehen. Was sie noch bräuchte, wäre das Datum der Quittung, denn in ihren Unterlagen müsse sie die Ringweite raussuchen. In der dritten E-Mail gab‘s endlich Butter bei die Fische: 545 Euro, die Gravur inbegriffen, sollte er kosten. Unaufgefordert erklärte sie mir, dass seit dem Jahr meiner Trauung der Goldkurs stark gestiegen sei.
Welch ein Glück für alle Gold-Dealer und Goldminen-Besitzer dieser Welt! Aber ich hatte schon wieder den Schwarzen Peter gezogen, diese Investition würde meinen Kontostand knietief ins Dispo zwingen. Ich klammerte mich an den Strohhalm einer Ratenzahlung –
und siehe da – die Schmuckgestalterin schlug ein. Wenn ich ihr den Betrag in drei Raten zahlen würde, wäre ich an unserem vierten Hochzeitstag wieder ein glücklich beringter Ehemann.