Mit der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl wurden im April 1986 die Risiken einer friedlichen Nutzung der Kernenergie drastisch vor Augen geführt. Hierzulande beförderte der sogenannte Super-GAU die junge Öko-Bewegung. Der Atomausstieg folgte aber erst nach 2011.
Alles begann mit einem Sicherheitstest, bei dem für anstehende Wartungsarbeiten der Reaktorblock 4 des vier Kilometer von der Stadt Prypjat und 18 Kilometer von Tschernobyl entfernt gelegenen Kernkraftwerks leistungsmäßig heruntergefahren werden sollte. In der Nacht zum 26. April 1986 endete dies in der bis zu diesem Zeitpunkt größten Katastrophe in der Geschichte der Kernenergie-Nutzung. Erstmals sah sich die Internationale Atomenergie Behörde dazu gezwungen, in der auf den Namen „INES" getauften siebenstufigen Bewertungsskala nuklearer Störfälle die höchste Kategorie 7 aufzurufen. Im US-Atomkraftwerk „Three Mile Island" in Pennsylvania war es 1979 zum ersten Mal zum „größten anzunehmenden Unfall", kurz GAU, gekommen. Bei der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl wurde aber durch die gigantische Freisetzung von Radioaktivität eine gänzlich neue Dimension von schädlichen Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit und die Umwelt auch weit außerhalb der Kernanlage erreicht. Dafür wurde die Bezeichnung Super-GAU gebräuchlich, weil bei diesem gravierenden Unglück die Anlage komplett außer Kontrolle geraten war. Beim Kernkraftwerk von Tschernobyl handelte es sich um eine Musteranlage der damaligen Sowjetunion. Im Westen hingegen war in Zeiten des Kalten Krieges über die Funktionsweise des sogenannten graphitmoderierten Siedewasser-Druckröhren-Reaktors (RBMK) wenig bekannt. Nicht zuletzt deshalb, weil in der 1986 aus vier Reaktorblöcken zusammengesetzten Anlage nicht nur Strom erzeugt, sondern sie auch zur Gewinnung von waffenfähigem Plutonium genutzt wurde.
Im Prinzip ist ein RBMK ein spezieller Siedewasserreaktor mit einem direkten Kreislauf zwischen Reaktor und Turbine. Im Unterschied zu einem gewöhnlichen und in den meisten Kernkraftwerken gebräuchlichen Siedewasserreaktor, bei dem normales Wasser sowohl als Kühlmittel als auch als sogenannter Moderator verwendet wird, benutzt der RBMK zwei Moderatoren, nämlich Wasser und Graphit.
Sicherheitscheck sollte eigentlich Routineaufgabe sein
Moderatoren haben innerhalb des Reaktorkerns bei einer kontrollierten Kettenreaktion die Aufgabe, Neutronen vor der Spaltung eines Urans abzubremsen, weil nur dadurch die Kernspaltung und die Freisetzung der Kernenergie möglich ist. Der Vorteil der RBMK-Technologie besteht darin, dass große Reaktorleistungen ohne Druckbehälter möglich sind und sich die Kettenreaktion bei einer Steigerung von Leistung und Temperatur deutlich beschleunigen lässt. Der erhebliche Nachteil der Technik besteht darin, dass Kühlmittel und Moderator nicht wie bei der Verwendung von Wasser identisch sind und vor allem das Graphit brennbar ist. In Tschernobyl waren daher die Uran-Brennelemente in von einem Graphitblock umgebenen Röhren eingeschlossen. Zur Kühlung und für die Stromerzeugung nötigen Dampfgewinnung wurde Wasser von unten durch die Röhren gepumpt.
Zur Steuerung der Kernreaktion standen sogenannte Absorberstäbe aus Borkarbid zur Verfügung, die ähnlich wie ein Gas- oder Bremspedal eingesetzt werden konnten. Sobald die Stäbe in die Röhren eingesenkt wurden, sank die Reaktorleistung durch Einfangen frei gewordener Neutronen. Wenn sie hingegen herausgezogen wurden, konnte die Leistung erhöht werden. Ein absoluter Routinevorgang, der nur wenige Sekunden Zeit in Anspruch nahm.
Routine hätte eigentlich auch der am 25. April 1986 eingeleitete Sicherheitscheck des Blocks 4 sein müssen. Er war längst überfällig und hätte schon vor der gerade mal drei Jahre zurückliegenden Inbetriebnahme des vierten Tschernobyl-Reaktors gemacht werden sollen. Es sollte überprüft werden, ob bei einem Ausfall der öffentlichen Stromversorgung die restliche Turbinen-Rotationsenergie noch ausreichend Strom für das Weiterlaufen der Kühlwasserpumpen liefern konnte, bevor die dieselgetriebenen Notstromgeneratoren nach etwa 40 bis 50 Sekunden die Aufgabe übernehmen konnten. Da ohnehin die Jahreswartung anstand und das gleiche Experiment beim Block 3 1985 gescheitert war, wollte man nun diesen Test unbedingt erfolgreich absolvieren. Um 13 Uhr wurde das Experiment durch Herunterfahren der Reaktorleistung und gleichzeitiger Abschaltung des Notkühlsystems gestartet. Eine Stunde später, als die Leistung schon auf rund die Hälfe reduziert worden war, musste der Test auf Weisung der Kiewer Stromlast-Verteilerzentrale wegen erhöhtem Energiebedarf zunächst einmal gestoppt werden. Die Leistung sollte nicht weiter Richtung Testvorgabe 25 Prozent heruntergefahren werden, sondern mit halber Kraft weiterlaufen. Dabei wurde versäumt, die Notkühlsysteme wieder einzuschalten.
Vorschriften wurden schlicht missachtet
Kurz nach 23 Uhr kam die Freigabe zur Fortsetzung des Tests. Aus ungeklärten Umständen, möglicherweise durch einen Bedienerfehler oder wegen eines technischen Defekts, fiel die Leistung um 0.28 Uhr des 26. April 1986 auf rund ein Prozent ab. Als mögliche Erklärung wurde auch eine auf die stundenlange Drosselung der Anlage rückführbare stark erhöhte Konzentration des Isotops Xenon-135 im Reaktorkern angeführt, weil die sogenannte Xenon-Vergiftung durch Neutronen-Absorption die Kettenreaktion gehemmt haben könnte. Jedenfalls war eine extrem kritische Situation eingetreten, weil der Reaktor unterhalb von 20 Prozent Leistung nicht mehr sicher gesteuert werden konnte. Eigentlich hätte die Anlage laut den Vorschriften sofort abgeschaltet werden müssen.
Die Mannschaft entschloss sich aber zum Gegenteil und versuchte durch Herausziehen einer unzulässig hohen Zahl von Absorberstäben aus den Brennelement-Röhren die Leistung wieder hochzufahren. Wenige Minuten später stieg daraufhin die Leistung auf sieben Prozent an. Immer noch viel zu wenig, doch statt die Anlage endgültig abzustellen, wurden weitere Absorberstäbe herausgezogen. Um 1.22 Uhr erreichte die Leistung zwölf Prozent. Eigentlich hätte sich die Anlage längst automatisch abstellen müssen, weil mindestens 28 Stäbe eingeführt sein mussten, aber die Techniker überlisteten die Schnellabschaltung durch ein Überbrückungssystem. Damit nicht genug. In der inzwischen völlig labilen Anlage wurde um 1.23 Uhr der Sicherheitsscheck durch eine Stromabschaltung gestartet.
In Sekundenschnelle schoss die Reaktorleistung in die Höhe. Um das außer Kontrolle geratene System doch noch zu stoppen, wurden per Notausschalter alle Absorberstäbe gleichzeitig als erhoffte Bremsen eingefahren. Doch zum Zeitpunkt des Eintauchens beschleunigten die Stäbe für einen kurzen Augenblick sogar die Kettenreaktion. Nach 36 Sekunden erreichte die Anlage das 100-fache der Nennleistung. Die extreme Energiefreisetzung in den Brennelementen führte zur Zerstörung des Reaktorkerns und bei über 2.000 Grad Celsius zum Einsetzen der Kernschmelze. Auch der tonnenschwere Graphitblock fing sogleich Feuer. Vermutlich ausgelöst durch große Mengen Wasserstoff, kam es zu zwei gewaltigen Explosionen, bei denen nicht nur die Reaktorabdeckplatte, sondern auch das Dach des ganzen Gebäudes abgesprengt wurden. Dabei wurden riesige Mengen an radioaktiven Nukliden bis in die Atmosphäre katapultiert.
30 Kilometer breite Sperrzone bis heute
Von diesem Super-GAU, bei dem rund 150.000 Quadratkilometer in Weißrussland, der Ukraine und Russland stark radioaktiv verseucht wurden und in dessen Folge rund 330.000 Menschen evakuiert werden mussten, erfuhr die europäische Welt wegen der sowjetischen Verschleierungstaktik erst einige Tage. Als der Brand in Block 4 am 6. Mai 1986 gelöscht werden konnte, waren auch schon große Teile Europas durch radioaktiven Fallout kontaminiert worden. Für Frischmilch oder Gemüse wurden Becquerel-Grenzwerte eingeführt. Rund um den ukrainischen Unglücksort nahmen sogenannte Liquidatoren, deren Zahl auf bis zu 800.000 geschätzt wird, ihre Aufräumarbeiten weitgehend ohne ausreichende Schutzkleidung auf. Ein erster Sarkophag genannter Schutzmantel wurde schon 1986 notdürftig errichtet, ein zweiter Sarkophag wurde zwischen 2010 und 2019 über der Ruine fertiggestellt.
Um die Anlage herum ist noch immer eine Sperrzone mit einem Radius von 30 Kilometern eingerichtet. Geradezu grotesk sind die Angaben zur Zahl der Opfer, weil die Weltgesundheitsorganisation WHO von gerade mal 50 Toten infolge von Strahlenkrankheit spricht und sich ein direkt nachweisbarer Zusammenhang zwischen Spätfolgen des Super-GAUs wie erhöhtes Auftreten von Leukämie oder Schilddrüsenkrebserkrankungen nicht ableiten lässt. Dennoch gibt es Schätzungen mit einer extrem großen Bandbreite zwischen 4.000 und bis zu 1,4 Millionen Betroffenen, die ihr Leben vorzeitig aufgrund radioaktiver Strahlung verloren haben.