Mit sechs Bergankünften ist der 3.450 Kilometer lange Giro d’Italia anspruchsvoller als die folgende Tour de France. Das Profil ist Kletterern auf den Leib geschnitten. Deshalb kann sich Emanuel Buchmann Hoffnungen machen – zumal Konkurrenten lieber bei der Grand Boucle starten.
Gemeinhin gilt die traditionsreiche Tour de France als härteste Radsport-Rundfahrt der Welt. Im Vorjahr hatte sie diesbezüglich ihrem Nimbus mal wieder alle Ehre gemacht und war mit allein sechs Bergankünften extrem schwierig konzipiert worden. Für die 108. Ausgabe haben die Organisatoren in diesem Jahr eine komplette Kehrtwendung in Sachen Streckenprofil vorgenommen und die Große Schleife, die mit dem Grand Départ am 26. Juni starten wird, dadurch deutlich entschärft. Mit dem Ergebnis, dass der Parcours mit lediglich drei Bergankünften, zwei mit 27 und 31 Kilometern recht langen Einzelzeitfahren, acht Flachetappen für Sprinter sowie dem Verzicht auf Extrem-Gipfelstürme viel ausgewogener daherkommt. Der Grand Boucle 2021 dürfte daher so recht nach dem Geschmack der Klassiker-Spezialisten wie Julian Alaphilippe, Wout van Aert oder Mathieu van der Poel sowie der schnellsten Beine rund um Sam Bennett sein. Während er für die reinen Kletterer eine ziemliche Enttäuschung bedeutet und für die Favoriten um den Gesamtklassement-Sieg, die vor allem bei steilen Bergankünften zu glänzen pflegen, viele Unwägbarkeiten mit sich bringt.
Der Giro kämpft um Anerkennung
Eigentlich ist daher 2021 der am 8. Mai in Turin mit einem kurzen, gerade mal neun Kilometer langen Einzelzeitfahren startende Giro d’Italia, die 104. Auflage seit der Etablierung des Klassikers 1909, die für Bergspezialisten und Rundfahrten-Stars der Szene viel bessere Alternative.
Was auf den ersten Blick nicht weiter überraschen dürfte. Denn der Giro versucht schon seit vielen Jahren, durch extrem anspruchsvolle und das TV-Publikum begeisternde Streckenprofile am Renommee des noch immer mit weitem Abstand profilierteste Rad-Events der Welt, eben der Tour de France, zu kratzen. Und 2021 bietet sich den Giro-Organisatoren mal ganz unverhofft die große Chance, weitaus spektakulärere Gefechte in den italienischen Bergen präsentieren zu können, als dies in Frankreich rund um die Gipfel der Alpen oder der Pyrenäen möglich sein wird. Auf der dreiwöchigen Rundfahrt vom 8. bis zum 30. Mai müssen auf 21 Etappen rund 3.450 Kilometer und 47.000 Höhenmeter bewältigt werden.
Und die haben es in sich: Nicht weniger als sechs Bergankünfte stehen auf dem Programm, dazu sieben hügelige Teilstücke, 34 Kilometer Schotterpisten und sogar eine Zielankunft auf einer unbefestigten Straße. Gerade mal sechs Flachetappen erlauben kurzes Durchschnaufen. Und den Abschluss bildet ein 29,4 Kilometer langes Einzelzeitfahren bei Mailand, bei dem sich die Top-Platzierten nochmals bewähren müssen und sich nicht wie in Paris traditionsgemäß auf der letzten Etappe der Tour de France feiern lassen können. Allein schon die Namen der Zielankünfte dürften einigen Mitgliedern der insgesamt 23 zugelassenen Radsport-Teams erhebliches Kopfzerbrechen bereiten. Etwa Cortina d’Ampezzo als Endpunkt der 212 Kilometer langen Königsetappe mit 5.700 Höhenmetern beim 16. Tagesabschnitt. Oder die Monster-Etappe Alpe di Mera, als 19. Abschnitt unweit der Schweizer Grenze anstehend, mit 4.500 Höhenmetern über San Bernardino und den Splügenpass. Die Rampe zur Sega di Ala bei Trient auf der 17. Etappe oder die Bergankunft auf dem legendären Monte Zoncolan auf der 14. Etappe nicht zu vergessen.
Ausgerechnet Deutschlands bester Bergspezialist, Emanuel Buchmann, zählte zu den wenigen prominenten Fahrern, die über das extrem anspruchsvolle Streckenprofil des Giro d’Italia regelrecht ins Jubeln geraten waren. Eigentlich hatte Buchmann nach seinem enttäuschenden, den Spätfolgen eines schweren Sturzes beim vorbereitenden Critérium du Dauphiné geschuldeten 38. Platz in der Gesamtwertung der Tour de France 2020 einen neuerlichen Angriff aufs Podium der Frankreich-Rundfahrt starten wollen. Bei der war er 2019 mit Platz vier nur knapp am Podest vorbeigeschrammt gewesen.
Aber nachdem der 28-Jährige die Streckenplanung für die Tour de France 2021 studiert hatte, hatte er sofort enttäuscht abgewunken. „Es ist schon schade. Nach der Tour im vergangenen Jahr hatte ich fest geplant, sie wieder anzupeilen. Als ich dann aber die Strecke gesehen habe, war ich enttäuscht." Weil er sich als perfekter Kletterer und allenfalls leidlicher Zeitfahrer keinerlei Chancen auf eine vordere Platzierung ausrechnen konnte.
Buchmann will „vorne reinfahren"
Daher rückte plötzlich der Giro d’Italia in den Mittelpunkt seines sportlichen Interesses. Buchmann wird daher 2021 sein Debüt bei der Italien-Rundfahrt geben. Mit der klaren Ambition, „vorne reinzufahren." Auch wenn das gar nicht so einfach werden dürfte. Doch Buchmann gibt sich kämpferisch: „Prinzipiell ist erst mal ein Podestplatz das Ziel. Das wird beim Giro natürlich auch nicht viel leichter, da werden auch noch ein paar Gute am Start stehen. Da muss auch drei Wochen lang alles passen." Bei Buchmanns Team Bora-Hansgrohe ließ man sogleich verlautbaren, dass es sich bei Buchmanns Abstellung zum Kampf um das Maglia Rossa beim Giro statt um das Gelbe Trikot bei der Tour keinesfalls um eine Degradierung des Vorzeigeprofis handele. Man habe sich für Neuzugang Wilco Kelderman als Kapitän für die Tour entschieden, weil Buchmann und Kelderman zwar am Berg in etwa die gleichen Qualitäten hätten, aber der Niederländer über die bei der Frankreich-Rundfahrt 2021 besonders nötigen besseren Fähigkeiten im Zeitfahren verfüge.
Man könnte sich die ketzerische Frage stellen, ob der jüngst bei der Baskenland-Rundfahrt nach einem Sturz verletzt ausgeschiedene Kelderman von Bora-Hansgrohe nicht besser als Buchmann-Helfer beim Giro d’Italia hätte nominiert werden sollen. Beim Blick auf das achtköpfige Aufgebot, zu dem überraschenderweise auch Peter Sagan zählt, kann eigentlich nur der Österreicher Felix Großschartner seinen Kapitän Buchmann bei schweren Bergetappen hilfreich unterstützen. Vielleicht auch noch der Italiener Matteo Fabbro. Aber wenn es im Rennverlauf an extremen Steilstücken zu Attacken von Buchmanns Hauptkonkurrenten im Kampf ums Gesamtklassement kommen sollte, dann dürfte der gebürtige Ravensburger weitgehend auf sich allein gestellt sein. Er braucht in einem solchen Fall dringend einen Begleiter, der ihm hilft, das aufgerissene Loch zuzufahren. Weil er das selbst in der Regel nicht kann, genauso wenig wie er bislang seine Fähigkeit unter Beweis stellen konnte, selbst mal einen beherzten Angriff aus der Gruppe der Top-Favoriten heraus zu starten. Buchmann hat seine größte Stärke fraglos beim Ausscheidungsfahren am Berg. So lange ein hohes Tempo gefahren wird und keine Ausreißer-Attacken lanciert werden, wird ihn so schnell niemand abschütteln können.
Wenige Stars beim Giro 2021
Im Interesse einer Podiumsplatzierung beim Giro d’Italia 2021 hätte das Team Bora-Hansgrohe durchaus auf die Doppelspitze Buchmann/Kelderman setzen können – und dafür bei der Tour de France in den Bergen und beim Zeitfahren mal die Karte Lennard Kämna spielen können. Bei den hügeligen Tour-Etappen kann Maximilian Schachmann die Kohlen für das deutsche Team aus dem Feuer holen. Für Schachmann kam ein Start beim berglastigen Giro überhaupt nicht infrage. Er hatte seinen Start bei der Italien-Rundfahrt kategorisch abgelehnt, dabei werden wohl noch seine schlechten Erfahrungen aus der Teilnahme im Jahr 2018 eine wesentliche Rolle gespielt haben. Auch wenn eigentlich für Schachmann wie alle anderen Spitzenfahrer ein Start beim Giro 2021 im Vergleich zur Tour den großen Vorteil mit sich bringen würde, eine ausreichende Relaxphase vor einer etwaigen Teilnahme bei den Olympischen Spielen in Tokio zu ermöglichen.
Vor diesem Hintergrund ist es schon verwunderlich, dass sich vergleichsweise wenige Stars für den Giro d’Italia 2021 gemeldet haben. Die aktuellen slowenischen Radsport-Könige Tadej Pogačar und Primož Roglič haben auch als starke Zeitfahrer der prestigeträchtigeren Tour de France den Vorzug gegeben. Nicht einmal der britische Giro-Vorjahressieger Tao Geoghegan Hart möchte seinen Titel in Italien verteidigen. Daher ist das Feld von Emanuel Buchmanns Hauptkonkurrenten überschaubar. An erster Stelle ist sicherlich der Brite Simon Yates vom Team Bike-Exchange zu nennen. Er hatte schon 2018 dank beherzter Alleingänge und drei Etappensiegen den Triumph kurz vor Augen, bevor er auf dem 19. Streckenstück doch noch einen entscheidenden Rückschlag erleiden musste.
Simon Yates muss Emanuel Buchmann ebenso im Auge behalten wie den kolumbianischen Tour-Sieger 2019 Egan Bernal vom Team Ineos Grenadiers. Beim belgischen Jungstar Remco Evenepoel von Deceuninck-Quick-Step bleibt abzuwarten, inwieweit er seine schweren Verletzungen aus der Lombardei-Rundfahrt 2020 überwunden hat. Auch Bahrain-Victorious möchte mit den beiden Spaniern Mikel Landa und Pello Bilbao sicher im Kampf ums Podium mitmischen. Den Franzosen Romain Bardet von Team DSM und den Spanier Marc Soler von Movistar nicht zu vergessen.