Tartu gehört in diesem Jahr zu den Kulturhauptstädten Europas. Die älteste Stadt in Estland präsentiert sich mit rund 350 Projekten und 1.000 Veranstaltungen als Vorreiter. Besucher erfreuen sich auch am historischen Flair.
Drei Städte wurden zur Europäischen Kulturhauptstadt 2024 gewählt. In alphabethischer Reihenfolge sind das Bad Ischl in Österreich, Bodø in Norwegen und Tartu in Estland.
Tartu startet zusammen mit umliegenden Region Südestland am 26. Januar als Kulturhauptstadt Europas 2024. Die Programm-Präsentation war am 19. Oktober vergangenen Jahres. „Arts of Survival“, Überlebenskünste, lautet das Motto. Aktueller könnte es gar nicht sein.
Estland, jahrhundertelang ein Spielball diverser Herrscher und Staaten, musste sich fürs Überleben vieles einfallen lassen. Besucher können diesbezüglich einiges lernen. Jedoch nicht durch ernste Belehrungen, sondern durch ein freundlicheres und intensiveres Miteinander.
Dieser Gedanke wird auch die Eröffnungsfeier am Fluss Emajõgi prägen, der durch Tartu fließt. „All Becomes One“, alles wird eins, bedeutet das. „Das Event soll die Verbundenheit der Menschen untereinander zum Ausdruck bringen“, heißt es dazu.
Dass dies gelingt, bleibt zu hoffen. Generell sollen alle Besucher Neues und Schönes entdecken, sich wohl fühlen und fröhlich sein. In Tartu gelingt das leicht. Estlands zweitgrößte Stadt zeigt sich als ein schöner, lebendiger und gut gepflegter Wohnort.
Das Rathaus ist ein echter Hingucker, und die charmante Altstadt mit ihren bunten, denkmalgeschützten Holzhäusern gefällt auf den ersten Blick. Die Kinder würden am liebsten dort gleich ins Puppentheater gehen.
Hoffen auf eine Million Besucher
Da alles Erforderliche vorhanden ist, musste Tartu – anders als einige bisherige Kulturhauptstädte Europas – nichts Neues bauen und keine Stadtsanierung betreiben. „Die 25 Millionen Euro, die für 2024 bereitgestellt wurden, kommen nur der Kultur zugute“, betont Urmas Klaas, seit zehn Jahren Tartus Oberbürgermeister, im Interview. Also auch den 350 Projekten und 1.000 Veranstaltungen im Kulturjahr 2024.
„Schon 2017 hatten wir mit der Planung begonnen und erhielten 2019 die Zusage“, sagt Klaas. „Als große Ehre haben wir dies empfunden.“ Nun hoffen Tartu und Südestland auf eine Million Besucher.
Doch Estland mit nur 1,33 Millionen Einwohnern kann das alleine nicht schaffen. Die Esten setzten deshalb auf ein steigendes Interesse in Europa für Tartu und ihr grünes, waldreiches Land.
Wo hat Urmas Klaas sein perfektes Deutsch gelernt? „Ich bin Historiker, und Deutsch ist in diesem Bereich obligatorisch“, erklärt er. Sogleich verweist er auf ständige Kontakte mit der Freien und der Humboldt-Universität in Berlin sowie mit Universitäten in Freiburg und Leipzig. Als Chefredakteur einer Zeitung war er auch schon tätig und zuständig für Wirtschaft, Bildung und Kultur.
Für Urmas Klaas sind jedoch die Verbindungen zu Deutschland nicht erst jetzt wichtig. Als ein Beispiel aus der Vergangenheit nennt er das Jahr 1224, als der Schwertritterorden in Estland das Sagen hatte, und beurteilt das positiv. „Tartu, auf Deutsch Dorpat, wurde vor 800 Jahren zur Bischofsstadt und damit ein Teil Europas“, betont er.
Von großer Bedeutung sei außerdem das Jahr 1632, in dem der Schweden-König Gustav II. Adolf in Dorpat (heute Tartu) eine Universität gründete. „Durch sie wurde diese Stadt Estlands Zentrum für Kultur, Wissenschaft, Forschung und Bildung“, zählt Klaas auf.
Die Uni selbst, die größte in Estland und ein beeindruckender klassizistischer Bau, hat darüber hinaus eine außergewöhnliche Entwicklung genommen. Nach aktuellen offiziellen Angaben „gehört sie zu den besten ein Prozent der Universitäten der Welt, ist damit eine der führenden Universitäten Nordeuropas und die bestplatzierte Universität im Baltikum.“ So zu lesen in der deutschen Übersetzung.
Tartus Universität hat vier Fakultäten und ist bekannt für ihren starken Forschungsschwerpunkt. „14.000 Studenten, darunter 13 Prozent aus 100 Ländern“, werden dort ausgebildet.
Massenküssen hat Tradition
„Darüber hinaus verfügt die Universität Tartu auch über ein Krankenhaus, ein Sportzentrum, eine Jugendakademie, Museen, einen botanischen Garten, eine Biobank, eine Sternwarte und eine Bibliothek mit mehr als vier Millionen Dokumenten“, wird stolz berichtet. Welch eine Leistung der relativ kleinen Bevölkerung! Tartu hat knapp 100.000 Einwohner. Doch Bildung und Kultur werden sehr geschätzt.
„Bei den Studierenden sind Computer- und Infotechnologien sehr gefragt, aber auch Jura, Psychologie, Bildungswissenschaften und Medizin“, ergänzt Oberbürgermeister Klaas. Die Zusammenarbeit zwischen der Uni, der Stadtverwaltung und den Unternehmen sei ebenfalls sehr wichtig, fügt er hinzu. 2030 soll Tartu eine klimaneutrale Smart City sein.
Dennoch haben die Studierenden nicht nur Lernen und Forschen im Sinn. „Kissing Tartu“ am 17. und 18. Mai 2024, ein Massen-Event, wird vermutlich ein Höhepunkt im Kulturhauptstadtjahr 2024. Die Besucherinnen und Besucher können und sollen sich ebenfalls küssen, „um Mitgefühl und Respekt gegenüber anderen und sich selbst auf diese Weise zu fördern“, erläutert ein Text.
Immerhin hat dieses Massenküssen eine gewisse Tradition. Das zeigt die Brunnenskulptur mit einem sich küssenden Paar, geschaffen 1998 vom estnischen Bildhauer Mati Karmin. Die ist zu einem Wahrzeichen Tartus geworden.
Estland ist ein Musterbeispiel für gelungene Digitalisierung, zugleich lieben die Esten die Traditionen. Bauten von früher, die zwischenzeitlich beschädigt oder zweckentfremdet wurden, werden akribisch saniert und restauriert. Ein Beispiel sind die die vielen wertvollen Terracotta-Figuren an und in der wieder in Stand gesetzten, 700 Jahre alten Johanniskirche. Der Dom wird aber wohl so bleiben, wie er schon länger ist: eine imposante Backsteinruine, die man im Sommer mitunter für besondere Gottesdienste nutzt. Im Kulturhauptstadtjahr 2024 soll der Dom mit einer Lichtschau beeindrucken.
Musik, Theater, Kino und Ausstellungen gibt es außerdem in Hülle und Fülle. Und wie wichtig Tartu, die älteste Stadt Estlands, für das ganze Land ist, beweist das 2016 eröffnete Estnische Nationalmuseum, ein imponierender moderner Bau, errichtet am Stadtrand auf einem ehemaligen russischen Flugplatz.
Für dieses Museum interessieren sich viele Menschen. Sie kommen aus 120 Ländern, und im Juni 2022 wurde der millionste Besucher begrüßt. Aus dem ehemaligen Militärgelände wurde ein friedlicher Ausstellungsort mit Musikveranstaltungen auf dem Außengelände im Sommer.
Vom 1. November in diesem Jahr bis zum 2. März 2025 ist nun dort eine Solo-Ausstellung des Japaners Ryoji Ikeda zu erleben, der zu Japans führenden elektronischen Komponisten und Bildermachern gehört und so das Kulturhauptstadtjahr bis ins Jahr 2025 hinein verlängert. Andersartig überrascht im Kulturjahr 2024 die Show der Extremsportler, die von der Olympiade in Paris gleich nach Tartu düsen. Oder soll es lieber „Naked Truth“ (die nackte Wahrheit), ein Sauna-Debattenfestival, sein oder ein Theaterstück über den Geldwäsche-Skandal um die Danske Bank in Estland?
Farbenprächtiges Festival
Das alles findet bereits Anerkennung: Gerade hat es Tartu auf die „Cool list 2024“ von National Geographic geschafft und wurde unter die 30 lohnendsten Reiseziele 2024 eingereiht.
Kati Torp, Künstlerische Direktorin von Tartu 2024, hat sich viel Spannendes ausgedacht. Wer sich aufs Rad schwingt, um im grünen Südestland die dortigen Kulturhauptstadt-Einfälle zu erleben, wird sicherlich auch staunen können. Zu einem Höhepunkt wird jedoch für viele das farbenprächtige Gesangs- und Tanzfestival vom 16. bis zum 22. Juni mit 8.500 Sängerinnen und Sängern. Das wurde 1869 in Tartu ins Leben gerufen und findet nun alle fünf Jahre in Estland, Lettland und Litauen statt.
Fröhlich singend ziehen dann Chöre aus allen Landesteilen zunächst durch Tartu und weiter hügelan bis zum Stadion, die Kinder-Ensembles zumeist in bunter Kleidung, die Älteren in ihren traditionellen Trachten. Bewohner und Angereiste wandern mit, und einige denken vermutlich daran, dass die drei Baltischen Staaten im August 1989 eine Menschenkette gebildet und sich ihre Freiheit von der sowjetischen Besatzung ersungen haben.
Die Unesco hat das gewürdigt. Seit 2003 gehören diese Gesangs- und Tanzfeste zum unantastbaren immateriellen Weltkulturerbe. Unangetastet wollen auch Estland, Lettland und Litauen bleiben. Tartus Rolle als Kulturhauptstadt Europas 2024 soll dazu beitragen. Eines der absoluten Highlights im Kulturjahr dürfte das Konzert von Sting am 10. Juni sein, sein einziges in Nordeuropa.