Wenn die Temperaturen tief genug sinken, wird der Neusiedler See zur gewaltigen Eisfläche – und zur Eissegel-Rennstrecke. Mit bis zu Tempo 120 geht es dann über Mitteleuropas größte Eisfläche. Auch andernorts werden an frostigen Tagen die Segel gesetzt.
Endlich Schnee. Endlich Frost. Endlich Winter, der – selten genug – dem Südosten Österreichs zumindest für ein paar Tage die kalte Schulter zeigt. Die Landschaft hüllt sich ganz in Weiß. Still ruht der Neusiedler See, überzogen von einer dicken Eisschicht. Gut, dass jemand heißen Tee reicht. Schließlich muss man sich bei diesen Minusgraden, ist man nicht per Schlittschuh, Schlitten oder zu Fuß auf dem See unterwegs, warm halten. In unserem Fall, bis Thomas Habit mit seinem Eissegler zum Steg des Wassersportzentrums Lang in Mörbisch, am südwestlichen Eck des Sees gelegen, zurückkehrt. Vor einer Stunde haben wir ihn dort verabschiedet. Anfangs ließ sich sein kreuzendes Boot auf Kufen noch mit bloßem Auge verfolgen, dann verschwand es aus dem Blickfeld. Selbst mit dem Fernglas ließ sich das weiße Segel nicht mehr erkennen. Doch plötzlich taucht das Boot am Horizont wieder auf, bewegt sich rasend schnell, wechselt abrupt den Kurs und hält auf unseren Steg zu. Deutlich erkennen wir, wie Habit über das blanke Eis fegt, die Segel bis zum Anschlag dicht geholt. Eine der drei Kufen hebt ab und versetzt das Gefährt samt Insassen in eine beunruhigende Schräglage. Der passionierte Eissegler aus Oberösterreich kommt immer näher, doch plötzlich lenkt er eine weite Kurve, fährt gegen den Wind und bremst schließlich mit beiden Füßen auf der blanken Eisfläche – die Spikes an den Schuhen sorgen für den nötigen Halt. Habit schwenkt die Lenkstange zur Seite, steigt aus dem wannenähnlichen Boot, nimmt Helm und Schneebrille ab und sagt: „Heut’ läuft’s richtig gut! Mit 100 Sachen über den See, rundherum nur Weite und atemberaubende Stille – ein Erlebnis, das man nicht vergisst.“
Fläche von mehr als 320 Quadratkilometer
Der 49-jährige Bauingenieur ist nicht der einzige, der dem ungewöhnlichen Hobby frönt. Weltweit, so die Schätzungen der International DN Ice Yacht Racing Association (IDNIYRA), dürften es einige Zehntausend sein, allein in Österreich über tausend. Aber wie Habits Gleichgesinnte wurde auch er in den vergangenen Jahren aufgrund der vergleichsweise milden Winter mitunter arg auf die Geduldsprobe gestellt. Aber dann gibt es immer wieder Spitzenphasen. 2017 war der Neusiedler See vier Wochen zugefroren, im vergangenen Winter immerhin einige Tage. Doch klar: Wenn gebibbert wird, dann also erst mal darum, ob die Temperaturen überhaupt tief genug fallen, dass der See eine stabile Eisschicht bildet, und erst in zweiter Linie aufgrund der Kälte. Demzufolge müssen die überwiegend männlichen Akteure, die in der Regel zwischen 30 und 60 Jahre alt sind, viel Flexibilität aufbringen. Das Gute: Es kann mit dem Zufrieren selbst nach wärmeren Perioden recht schnell gehen – so wie an Weihnachten 2014 oder im Winter 2020/21. Wenn die Temperaturen über einige Tage, manchmal reichen zwei bis drei, tief genug sinken, wird der Neusiedler See zur riesigen Eisfläche. Und zur Rennstrecke. Dann flitzen die Eissegler wie kleine Raketen über den Steppensee. Nirgends in Mitteleuropa geht das so gut wie hier im Grenzgebiet von Burgenland und Ungarn. Mit einer Fläche von mehr als 320 Quadratkilometern, von denen abzüglich des teils üppigen Schilfgürtels rund 140 Quadratkilometer frei zugänglich und somit befahrbar sind, bietet der rund 45 Autominuten südöstlich von Wien gelegene See ideale Bedingungen. Das liegt neben der Größe vor allem an dem Umstand, dass er aufgrund seiner gerade einmal eineinhalb bis zwei Meter Wassertiefe vergleichsweise schnell zufriert. Und dass hier zuverlässige Winde wehen. Damit einher geht das Vorhandensein mehrerer Segelschulen am See, deren Betreiber eine natürliche Affinität zum Eissegeln haben und mitunter auch Regatten mitorganisieren. So fanden auf dem Neusiedler See schon mehrere österreichische wie ungarische Eissegelmeisterschaften statt, unter anderem 1996, und 2010 gar Welt- und Europameisterschaften.
Jenseits der Regatten geht es ebenfalls rasant übers Eis. Christof Schlegel, der nicht nur privat, sondern dank seiner in Weiden am See ansässigen Kommunikationsagentur auch beruflich viel mit dem Neusiedler See zu tun hat und die regionale Sportlerszene seit über 20 Jahren hervorragend kennt, berichtet von über hundert Eisseglern, die hier regelmäßig aktiv sind. „Die Leute, die am See leben, haben eine besondere Beziehung zum Wasser. Auch und ganz besonders im Winter. Dann zieht es viele aufs Eis. Mit Schlittschuhen, Schlitten, Langlaufski und eben auch mit Kites und speziellen Segelbooten.“ Und der See zieht auch weiter entfernt lebende Leute an. So wie Thomas Habit. Sind die Wetterprognosen gut, scheut er auch nicht die zweieinhalbstündige Anreise aus Linz.
Nach kurzer Einführung geht’s aufs Eis
Was er ebenso wenig scheut: Tempo. „Mit den rund drei bis vier Meter langen und etwa 30 Kilo schweren Eisseglern auf drei Eisen- oder Holzkufen schafft man bis zu 120 Stundenkilometer. Der Rekord liegt bei 135 km/h!“ Die enorme Geschwindigkeit, die sich einige Aktive gar auf die Scheibe digitaler Spezialbrillen projizieren lassen, ist für viele ohnehin die größte Faszination am Eissegeln. Selbst bei schwacher Brise steht dem Vergnügen nichts im Weg. Höchstens gelegentliche Eisverwerfungen, die – meist am Ostufer – entstehen, wenn die überwiegend aus Nordwesten wehenden Winde Eis und Wasser teils meterhoch auftürmen. Eine größere Gefahr stellen jedoch Eislöcher dar, für die warme Quellen verantwortlich sind. Christof Schlegel will die Gefahr aber nicht überbewerten: „Es ist wie bei jedem Natursee: Man muss immer aufpassen, aber auf dem stabil zugefrorenen Neusiedler See ist der Aufenthalt nicht riskanter als anderswo. Dankenswerterweise werden größere Löcher in der Regel von Ehrenamtlichen gekennzeichnet.“ Außerdem befinden sich für Rettungszwecke in regelmäßigen Abständen Seile und Leitern am Ufer. Nichtsdestotrotz rät Schlegel zu ein paar Vorsichtsmaßnahmen: „Immer mit anderen unterwegs sein oder zumindest jemandem Bescheid geben, dass man auf dem See ist! Farbige und warme Kleidung tragen! Und neben einem Handy in einer wasserfesten Verpackung zwei Schraubenzieher mitführen, mit denen man sich zur Not aus dem Eisloch befreien kann, indem man sie als Haltegriffe ins Eis rammt. Zum Glück ist der See ja nirgends richtig tief, doch das Problem stellt die Unterkühlung dar, wenn man sich nicht rasch aus dem Loch befreien kann.“ Ein anderes Problem stellen Kenterstürze dar, bei denen es schon mal zu doppelten Schienbeinbrüchen kam.
Von einem Solo-Törn sollten Ungeübte also erst mal die Finger lassen. Außerdem begeistert es allein schon, den Profis zuzusehen. Wer weiß, vielleicht nimmt ja der eine oder andere einen auch mal auf eine kurze Probefahrt mit ins Boot? Eine andere Möglichkeit, das Abenteuer Eissegeln selbst zu erleben, stellt das Ausleihen eines Blokarts dar. Die kleinere, dafür etwas stylischere, viel günstigere und vor allem leichter zu bedienende Variante wird im Übrigen auch auf anderen beliebten Eissegelseen wie dem Berliner Müggelsee, dem Schweizer Silsersee oder dem tschechischen Lipnosee verwendet. Bei entsprechenden Temperaturen kommen auch die bayerischen Seen infrage, etwa der Wörthsee. Mit etwas Segelerfahrung können selbst Eissegel-Novizen nach ein bis zwei Stunden Einführung allein aufs Eis.
Für echte Eissegel-Cracks sind Blokarts freilich nichts. Die sind eher im rund 4.500 Euro aufwärts teuren oder selbst gebauten DN-Schlitten unterwegs. „Der DN-Schlitten“, so Habit, „ist sowohl für Regatta- als auch für Fahrten-Eissegeln gut geeignet, das weiß ich zu schätzen.“ Diese beiden Segeldisziplinen ermöglicht auch der Neusiedler See, als einziger See in Österreich. Nur er ist groß genug für Fahrtensegeln, bei denen größere Distanzen mit Einkehren überbrückt werden. „An guten Tagen“, erzählt Habit, „komme ich auf 300 Kilometer – dann geht es zwei-, dreimal rund um den See.“ Spricht’s, steigt in den DN-Schlitten und saust wieder davon.