Vor der Westküste Afrikas liegt der winzige Inselstaat São Tomé und Príncipe. Der tropische Regenwald hinter den Traumstränden hatte die Kakaoplantagen aus der Kolonialzeit längst überwuchert. Doch jetzt erwachen die Schatzinseln aus ihrem Dornröschenschlaf.
Pechschwarze Wolken umhüllen die Felsnadeln in der Baias da Aguavas, Blitze zucken. Schüttet es gleich wie aus Gießkannen? Die Inselgötter haben anderes im Sinn: Sie lassen den Himmel aufreißen. Wie eine Zeichnung aus dem Tagebuch historischer Forschungsreisender wirkt dieses Panorama, wie eine Illustration aus dem Abenteuerroman „Die vergessene Welt“. Darin erzählt Sherlock-Holmes-Erfinder Arthur Conan Doyle die fantastische Geschichte einer Expedition, die in einem fernen Land Dinosaurier aufspürt. Sollten die Echsen aus der Urzeit tatsächlich noch irgendwo auf dem Globus unentdeckt überlebt haben, dann hier, auf Príncipe, dieser Insel wie aus „Jurassic Park“.
Als mahnender Finger aus Vulkangestein reckt sich der Pico de Príncipe bis auf 947 Meter in die Höhe. Mal als Felsenturm, mal als Tafelberg wachsen auch seine nicht minder spektakulären Nachbarn direkt aus dem dampfenden Regenwald. Unter ihnen breitet sich der Dschungel aus, der fast unwirklich wirkt in seinem frischen, vor Leben strotzendem Grün – ganz so, als habe es der Grafiker am Weltcomputer hier etwas zu gut gemeint mit der Sättigung. An der Steilküste klatschen die Wellen an schwarze Lavabrocken. Doch in den kleinen Buchten zwischendrin, wo sich die Farbe des Atlantiks von dunkelblau in türkisgrün verändert, leuchtet goldgelber Sand unter rauschenden Kokospalmen.
Die Strände tragen klingende Namen: Praia Banana, Praia Boi, Praia Margarida. Wer sich zu Fuß durchs Dickicht kämpft oder, deutlich einfacher, bei einer Tour mit dem Boot anlegt und dort nach Fußspuren sucht, findet nur seine eigenen. Im Grün des Dschungels verbergen sich Jahrhunderte alte Kakaoplantagen aus der Kolonialzeit. Unter dem Blätterdach mächtiger Blattwurzelbäume wachsen jene historischen Sorten, die der Italiener Claudio Corallo in die wohl beste Schokolade der Welt verwandelt.
Wer eine schicke Boutique erwartet, wird überrascht sein. „Auf Äußerlichkeiten gebe ich nicht viel“, grinst der sympathische Italiener, der Besucher in T-Shirt und Flip-Flops empfängt. Fenster hat sein historisches Herrenhaus schon lange keine mehr, auch das Dach ist inzwischen undicht. Doch Claudio Corallo hat sein Leben in Afrika verbracht, ist also hart im Nehmen. Im Alter von über 70 Jahren verschwendet er auch keine Zeit an so etwas Unwichtiges wie Reparaturen.
„Gaaaanz langsam“, sagen die Bewohner
Er ist ein Fanatiker, ein Mann mit einer Mission, aber einer mit Charme und Humor. Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang widmet er jede Minute erst den Kakaopflanzen auf seiner Plantage und dann der Weiterverarbeitung der geernteten, reifen Schoten. Er treibt einen irren Aufwand, der sich am Ende aber auszahlt: Claudio Corallos Schokolade schmeckt viel aromatischer und intensiver als alles, was man anderswo kosten kann.
Tropenschönheiten gibt es viele auf der Welt, und alle haben sie ihre Reize – mal eher versteckt, mal sehr offensichtlich zur Schau getragen. Doch welche Götter auch immer Príncipe einst aus dem Meer gehoben haben: Sie waren echte Künstler. Und die Götter haben mit São Tomé, der größeren Schwesterinsel um die Ecke, ein weiteres Meisterstück abgeliefert. Beide sich im Meer räkelnden Grazien sind schon von Natur aus bezaubernd, bereits das erste Date verzaubert Verehrer. So viel Lieblichkeit will man nicht mit Nebenbuhlern teilen. Kein Wunder also, dass die Weltumsegler ihren Sehnsuchtsort vor dem Rest der Welt bislang ziemlich gut versteckt haben. São Tomé und Príncipe? Sorry, nie gehört.
Nun erwachen die Schatzinseln aus ihrem touristischen Dornröschenschlaf. Aber „leve, leve“, wie man in der Kreolsprache Crioulo sagt, also „gaaaanz langsam“, so wie eigentlich alles hier. „Leve, leve“ bedeutet, dass es auf der Hauptinsel São Tomé anscheinend niemand eilig hat. Nicht die Taxifahrer in ihren gelben Uralt-Klapperkisten. Nicht die zum Schäkern aufgelegen Marktfrauen. Nicht der Barkeeper in der Strandbar „O Pirata“, wo freitags die Party abgeht. So haben sie Zeit für ein herzliches Lächeln, für Gespräche über Gott und die Welt, und zum Abschied manchmal auch eine unerwartete Umarmung. Touristen sind hier noch Gäste, keine Einnahmequelle, die es auszupressen gilt. Wer sich wenigstens ein paar Brocken Portugiesisch beigebracht hat, wird hier nie im Regen stehen.
Europäische Seefahrer kamen vor 500 Jahren
„Leve, leve“ ist also das Lebensmotto des Winzstaates, der kleiner ist als Berlin und gerade mal so viele Bürger hat wie Rostock, knapp 200.000. Die morbiden Kolonialgebäude in der Hauptstadt warten auf den Tag, an dem sie jemand wach küsst, oder an dem sie völlig auseinanderfallen. Die Fischer in der Lagoa Azul parken ihre Kanus in der Mittagshitze im Schatten der Baobabbäume, teilen ihre Erdnüsse, und am Ende nippt man gemeinsam am Rosema-Bier. Wer es immer eilig hat, sollte also gar nicht erst herkommen. Oder vielleicht gerade doch: São Tomé und Príncipe, das ist quasi Medizin für Gestresste. Und so etwas wie ein Überraschungs-Ei: Nach dem Öffnen ist man verblüfft, was sich dort alles findet.
Bislang kennen São Tomé und Príncipe nur ein paar eingeweihte Feinschmecker. Der kleine Staat liegt 250 Kilometer westlich des afrikanischen Kontinents im Golf von Guinea. Das geografische Zentrum der Welt ist eine Fingerbreite entfernt: Der Nullmeridian verpasst das Land knapp, doch im Süden der Hauptinsel São Tomé kann man auf dem Inselchen Rolas am Äquator-Marker Erinnerungsfotos schießen. Vor über 500 Jahren landeten hier europäische Seefahrer und nahmen die noch menschenleeren Inseln für die portugiesische Krone in Besitz, als Versorgungsstation für die Schifffahrt zwischen Amerika, Afrika und Europa.
Dann kam der wirtschaftliche Aufschwung: Vor hundert Jahren produzierte die kleine Kolonie so viel Kakao wie kein anderes Land auf der Welt. 1975 entließ Portugal seine Perle über Nacht in die Unabhängigkeit. Doch weil es mit dem Kommunismus auch hier nicht klappte, verfielen die Plantagen, die man Roças nennt. Heute sind sie ein Eldorado für Fotografen: Lianen ranken sich durch Maschinenhallen, Würgefeigen überwuchern die alten Wohnanlagen. Doch auf der Farm Terreiro Velho auf der Insel Príncipe ist es nun vorbei mit dem Dornröschenschlaf. Denn hier residiert Claudio Corallo, der König des Kakao.
Chocolatiers gibt es unzählige, doch nahezu alle kaufen sie ihren Rohstoff von Händlern. Auf Anbau, Ernte und Verarbeitung des Kakaos nehmen sie keinen Einfluss, sondern nutzen das fertige Produkt für Pralinen oder Tafeln. Als Erster seines Fachs baut Corallo seinen Kakao selbst an. „Es sind jene alten Sorten, die vor 200 Jahren aus Brasilien eingeführt worden sind und anderswo längst nicht mehr wachsen.“ Moderne Hybridsorten bringen zwar mehr Ertrag. „An den Geschmack der alten Sorten kommen die Neuzüchtungen nicht heran.“
Ein ganzes Schokoladen-Menü
Rot, gelb und orange leuchten die Schoten im dichten tropischen Grün, wenn sie geerntet werden. Das wochenlange Fermentieren der herausgelösten Bohnen, das behutsame Trocknen, das erst nach unzähligen Versuchen perfektionierte Rösten: Alles machen sie hier selbst und von Hand. Am Ende wird Bohne für Bohne auch ein winzig kleiner Trieb aussortiert, der für Fehlaromen sorgt. „Bitterkeit ist bei Schokolade immer ein Defekt“, sagt der Meister. „Wenn der Kakao gut ist, braucht man auch keine Vanille oder andere Zusatzstoffe.“ Das unterscheidet Corallos Produkte von industriell hergestellter Schokolade.
Schokolade mit 75, 80, gar 100 Prozent Kakao entsteht in Corallos Manufaktur, dazu Kreationen mit Ingwer, Orangenschalen, Meersalz und Pfeffer. Über einen Onlineshop werden die Delikatessen in der ganzen Welt vertrieben. Inzwischen sind auch die Köche vor Ort auf den Geschmack gekommen und experimentieren mit der Schokolade des Maestros. Das Restaurant der „Lodge Praia Sundy“ serviert Gästen ein ganzes Schokoladen-Menü. Da gibt es eine Tapenade aus zerstoßenen Kakaobohnen, Olivenöl, Kapern und Sardellen, dann Gnocchi mit Oktopus und einer Paste aus 100 Prozent Kakao, und später Tagliatelle Bolognese, in die kleine KakaoStückchen gemixt worden sind.
Eine gute Dreiviertelstunde braucht die Propellermaschine von São Tomé nach Príncipe, wo man bislang keine Dinosaurier oder andere Monstertiere gefunden hat. Trotzdem ist die Schokoladeninsel ein Hotspot der Artenvielfalt: Viele Pflanzen und Tiere, die hier vorkommen, gibt es nirgendwo sonst auf der Welt. Die Unesco hat Príncipe deshalb zum Biosphärenreservat ernannt. Wer mit den Guides durch den Wald stapft, kann sich auch im 21. Jahrhundert noch als Entdecker fühlen, darf dann aber zurück in seine komfortable Strandunterkunft. Man setzt auf Öko-Tourismus und eine nachhaltige Entwicklung.
Príncipes größter Luxus aber ist, dort fast alleine unterwegs zu sein. Selbst am Praia Banana ist nichts los, dort, wo in den 90er-Jahren ein Werbespot für eine Rum-Marke gedreht wurde. Der Clip ist total verkitscht, doch darauf kommt es nicht an, sondern auf die Begleitmusik. Die klingt nämlich nicht nur nach Karibik, sondern ist auch der passende Soundtrack für Príncipe. „Nothing is as nice as finding paradise“, heißt es da: Es gibt nichts Schöneres, als das Paradies zu finden – hier, auf der Schokoladenseite des Äquators.