Die vor 150 Jahren geborene US-Amerikanerin Gertrude Stein machte ihren Pariser Salon zu einem Treffpunkt der künstlerischen Avantgarde. Damit wurde sie schon zu Lebzeiten zur Legende, während sie als eine der ersten Frauen der literarischen Moderne mit ihren Büchern bis heute kaum Leser begeistern konnte.
Sie zählte zu den bemerkenswerten Persönlichkeiten der Pariser Bohème, die sich das Quartier du Montparnasse seit Anfang des 20. Jahrhunderts zum bevorzugten Künstlerviertel auserwählt hatte. In ihren Umgangskreisen wurde Gertrude Stein bald schon als „Sibylle von Montparnasse“ oder als „Hohepriesterin vom linken Ufer“ tituliert. Schließlich galt die gebürtige US-Amerikanerin, die sich seit 1903 in der Seine-Metropole niedergelassen hatte, als frühe Expertin, Mäzenin, Sammlerin und Prophetin avantgardistischer Kunst. Sie hatte in ihrer unweit des Jardin du Luxembourg gelegenen Wohnung in der Rue de Fleurus 27 einen mit vorwiegend zeitgenössischen Kunstwerken übervoll ausstaffierten Salon eingerichtet, in dem sich meist an Samstagabenden ein häufig wechselndes Grüppchen von damals größtenteils noch unbekannten Malern und Schriftstellern traf.
Mit der Rolle der spendierfreudigen Gastgeberin allein wollte sich Gertrude Stein aber nicht zufrieden geben. Schließlich hatte sie selbst große künstlerische Ambitionen. Allerdings wollte sie nicht etwa zum Malerpinsel greifen, um Salon-Dauerbrennern wie Pablo Picasso, Félix Valloton, Georges Braque, Juan Gris oder Henri Matisse Konkurrenz zu machen. Als Schriftstellerin, die 1909 ihr erstes Buch mit dem Titel „Three Lives“ veröffentlicht hatte, sah sie sich aber zumindest auf Augenhöhe mit Kollegen wie Ernest Hemingway, F. Scott Fitzgerald, Ezra Pound oder James Joyce. In ihrem Buch „Jedermanns Autobiographie“ aus dem Jahr 1937 setzte sie die Messlatte noch höher: „Einstein war der kreative philosophische Geist des Jahrhunderts, und ich bin der schöpferische literarische Geist des Jahrhunderts gewesen.“ Diese an Größenwahn grenzende Selbsteinschätzung wurde freilich von niemandem geteilt.
Überaus kühne Sprachexperimente
Allerdings steht außer Frage, dass Gertrude Stein eine der Mitbegründerinnen der literarischen Avantgarde war, dass sie neben Virginia Woolf, Katherine Mansfield, Hilda Doolittle, Djuna Barnes oder Janet Flanner eine der ersten Frauen war, die sich in der klassischen literarischen Moderne etablieren konnten. Mit ihren kühnen Sprachexperimenten hatte Gertrude Stein Neuland betreten. Deswegen wurde sie von ihrem in der Literaturwelt weitaus berühmteren Landsmann Thornton Wilder als „Mutter der Moderne“ geadelt. Das mag erklären, warum ihr immer wieder ein großer Einfluss vor allem auf die zeitgenössische amerikanische Literatur – von Sherwood Anderson über Ernest Hemingway bis hin zu F. Scott Fitzgerald – zugeschrieben wurde. Auch wenn es letztlich dafür an echten Belegen mangelt, wie der kanadisch-amerikanische Schriftsteller und Literaturprofessor John Malcom Brinnin schon in seiner 1960 veröffentlichten Biographie „Die dritte Rose. Gertrude Stein und ihre Welt“ anmerkte.
Mit ihrem Konvolut von Romanen, Novellen, Essays, Gedichten, Porträts oder Bühnenwerken, für die sich größtenteils kein Verleger und auch kein größeres Publikum begeistern konnte, brauchte die vermögende Autorin kein Geld zu verdienen. Ab 1931 wurden ihre Bücher im Eigenverlag Plain Edition herausgegeben. Gertrude Stein selbst hatte ihr Werk in zwei Gruppen unterteilt: Bücher wie das monumentale, mehr als tausend Seiten starke, zwischen 1906 und 1911 verfasste, aber erst 1925 erschienene Opus „The Making of Americans“ oder der Kurzprosa-Band „Tender Buttons“ aus dem Jahr 1914 zählte sie zur radikal avantgardistischen Richtung. Sie waren selbst für hartgesottene Leser eine ziemlich unverdauliche Kost und fanden auch bei den meisten Kritikern keinerlei Gnade.
Gertrude Stein hatte darin den Versuch unternommen, den von ihr sehr bewunderten Kubismus der Malerei auf die Literatur zu übertragen. Dafür verabschiedete sie sich von den sakrosankten Regeln der Grammatik, der Syntax oder der Zeichensetzung. Auch einem Handlungsstrang maß sie keinerlei Bedeutung bei. Letztlich handelte es sich um eine komplette Dekonstruktion gewohnter Literatur, um deren Aufsplitterung in Wort- und Satzwiederholungen. Für diese wurde immer wieder der wohl berühmteste Satz der gesamten amerikanischen Literaturgeschichte als Beispiel angeführt, der erstmals im Gedicht „Sacred Emily“ aus dem Jahr 1913 auftaucht: „Rose is a rose is a rose is a rose“ – „Rose ist eine Rose ist eine Rose ist eine Rose“.
Die zweite Gruppe, die ganz bewusst auf ein größeres Leserpublikum ausgerichtet war, bestand eigentlich nur aus einem einzigen Werk, bei dem Gertrude Stein ausnahmsweise auf konventionellen Pfaden des Schreibens wandelte. Die 1933 vom US-Verlag Harcourt, Brace and Company veröffentlichte „Autobiographie von Alice B. Toklas“ wurde in den USA ein Bestseller und ließ die damals fast 60-Jährige im Herbst ihres Lebens kurzzeitig zur berühmtesten Schriftstellerin im angelsächsischen Sprachraum aufsteigen.
Eigentlich handelte es sich um die Autobiographie von Gertrude Stein selbst, die diese jedoch ihrer langjährigen Lebenspartnerin Alice B. Toklas in den Mund gelegt hatte – um sich selbst geradezu schamlos in den höchsten Tönen loben und in aller Ausführlichkeit, von reichlich Klatsch und Tratsch untermalt, von den inzwischen berühmten Gästen ihres Pariser Salons berichten zu können. Die stattlich-burschikose Gertrude Stein und die zarte Alice B. Toklas wurden zum weltweit bekanntesten lesbischen Paar. Ihre 1934 in den USA angetretene Reise zur Buch-Promotion wurde ein Triumphzug. Als ein US-Journalist sie fragte, „Weshalb schreiben Sie nicht so, wie Sie sprechen“, bekam er von Gertrude Stein die schallende Antwort: „Weshalb lest ihr nicht so, wie ich schreibe?“
Zerwürfnis der beiden Geschwister
Die am 3. Februar 1874 unweit von Pittsburgh in Allegheny geborene Gertrude Stein wuchs als Nesthäkchen wohlbehütet in einer gut situierten Familie in Baltimore und Oakland auf. Nach dem Studium der Biologie und Philosophie in Cambridge nahm sie 1897 kurzzeitig auch noch ein Studium der Medizin in Baltimore auf, um nach dem Tod der Eltern ihrem Bruder Leo Stein, der einen Bachelor of Arts erworben hatte, nach Europa zu folgen. Dort entwickelte sich Leo schnell zum Kunstsammler und erwarb gemeinsam mit seiner Schwester zunächst Gemälde von Cézanne, Renoir, Manet oder Gauguin, die allesamt in der gemeinsamen Wohnung in der Rue de Fleurus aufgehängt wurden und von Besuchern der ersten Salon-Zusammenkünfte wie Max Jacob oder Guillaume Apollinaire bewundert werden konnten. Recht schnell erwarben die Geschwister auch Werke von damals noch völlig unbekannten Künstlern aus dem expressionistischen und kubistischen Spektrum wie Henri Matisse, Picasso oder Georges Braque.
Dabei kam es zu einem ersten Zerwürfnis, weil Leo die glühende Leidenschaft seiner Schwester für die Kubisten nicht teilen konnte. Zusätzlich gingen ihm die aus seiner Sicht minderwertige schriftstellerische Tätigkeit von Gertrude sowie die Anwesenheit von Alice B. Toklas, die 1909 in die Wohnung eingezogen war, auf die Nerven. 1913 kam es zur Eskalation: Leo verabschiedete sich Richtung Florenz, die Geschwister schlossen zeitlebens nicht mehr Frieden miteinander. Das „erste Museum der modernen Kunst“, wie die „New York Times“ die von Ernest Hemingway als „beste Bildergalerie Europas“ bezeichnete Stein-Sammlung mal genannt hatte, wurde aufgeteilt.
Fortan waren Gertrude und Alice die Gastgeber der Salons, wobei Picasso aufstieg zum Freund der Hausherrin,
die vom angehenden Malerfürsten 1905/1906 porträtiert wurde und selbst über 30 Jahre lang literarische Lobeshymnen auf den Spanier verfasste. Spätere Stilrichtungen der Kunst nach der Klassischen Moderne wie Surrealismus oder Futurismus stießen bei Gertrude Stein, die den Begriff der „Lost Generation“ für ihre schriftstellerischen Landsleute geprägt hatte, die nach der Kriegsteilnahme in Paris gelandet waren, nicht auf Interesse.
Todesursache war ein Magenkrebs
Heutige Versuche, sie als frühe Feministin zu vereinnahmen, sind abwegig, da sie keinerlei diesbezügliche Aktivitäten unternommen hat. Nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wurde es für das lesbische Paar ziemlich heikel, zumal beide Beteiligten einen jüdischen Familienhintergrund hatten. Doch dank guter Beziehungen zu einem hochrangigen Beamten namens Bernard Fay, der seinerseits über gute Kontakte zum Vichy-Regime und zur Pariser Gestapo verfügte, blieben sie in ihren Domizilen in Südfrankreich – zunächst in Billignin, ab 1943 in Culoz – von Verfolgungen unbehelligt. Auf Fays Intervention hin wurde sogar die Plünderung der Kunstschätze in Steins Pariser Wohnung in der Rue Christine, die sie schon vor Kriegsbeginn bezogen hatte, verhindert.
Im Dezember 1944 kehrte das Paar nach Paris zurück. Ihr Zuhause wurde bald schon ein beliebtes Ausflugsziel für US-GIs, auf deren europäischer Sightseeing-Tour ein Besuch bei der legendären Gertrude Stein möglichst nicht fehlen durfte. Am 27. Juli 1946 verstarb Gertrude Stein im Alter von 72 Jahren in einem Krankenhaus in Neuilly-sur-Seine an Magenkrebs. Ihre letzte Ruhestätte fand sie auf dem Friedhof Père Lachaise.