Der Arbeitskampf bei der Deutschen Bahn ist beendet. Erst einmal. Der längste Ausstand in der Geschichte der Bundesrepublik wirft Fragen auf: Muss das Streikrecht überarbeitet werden? Eine Forderung, mit der man sich die Finger verbrennt.
Zug entfällt. Mittlerweile mag man fast schon zynisch behaupten, ein einfahrender Zug erschrecke einen Pendler mehr als dessen Ausfall. Die Lokführergewerkschaft GDL und die Deutsche Bahn (DB) verhandeln seit Anfang November 2023. Mit jeweils zwei Warnstreiks im Spätherbst und zwei Streiks im neuen Jahr 2024 hat die GDL seither insgesamt vier Mal den Fern-, Regional- und Güterverkehr in weiten Teilen lahmgelegt. Der letzte große Streik sollte sechs Tage dauern. Es ist der längste Bahnstreik der Bundesrepublik, auch wenn er am Ende doch bereits am fünften Tag für beendet erklärt wurde. Eine Rückkehr zur Normalität, sofern es diese auf deutschen Schienen überhaupt gibt, ließ dennoch auf sich warten.
Die Deutsche Bahn soll der GDL in einigen entscheidenden Punkten entgegengekommen sein, heißt es. Ansonsten hätte man die Verhandlungen seitens der Gewerkschaft nicht noch einmal so früh aufgenommen. Zentral geht es dabei um die Absenkung der Wochenarbeitsstunden von 38 auf 35 Stunden. Zudem fordert die GDL 555 Euro mehr pro Monat und eine steuer- und abgabenfreie Inflationsausgleichsprämie von 3.000 Euro. Nach Angaben des DB-Konzerns verdienen Lokführer je nach Berufserfahrung und Einsätzen zwischen 45.000 Euro und 56.000 Euro brutto pro Jahr inklusive Zulagen. Die Forderungen der GDL bezeichnete Bahnsprecher Achim Stauß im November als „völlig überzogen und unnötig“. Doch nicht nur inhaltlich gibt es Probleme zwischen Konzern und den Arbeitnehmervertretern: 14 Stunden dauerten die Verhandlungen zwischen der von Claus Weselsky geführten GDL und der DB. Dem gegenüber stehen mittlerweile etwa 240 Stunden Streik. Schon im November hatte Weselsky die Verhandlungen nach nur zwei Treffen als gescheitert erklärt, trotz bereits in der ersten Sitzung getätigtem Verhandlungsangebot der Bahn.
Längster Bahnstreik der BRD-Geschichte
Mittlerweile lässt auch der Rückhalt in der Bevölkerung immer weiter nach. Von denen, die es am Ende ausbaden müssen. Und unweigerlich führt das auch zu einer Frage, die in den Ohren vieler Arbeitnehmer sicherlich keine Musik sein wird: Ist das Streikrecht in seiner jetzigen Form noch tragbar? Rund 100 Millionen Euro solle nach Schätzungen des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) der Bahnstreik täglich kosten. Und je länger er dauert, desto mehr potenzieren sich die Kosten. Für den historischen Sechs-Tage-Streik rechnete das IW mit rund einer Milliarde Euro Ausfällen – das sind 0,02 Prozent des jährlichen Bruttoinlandsprodukts.
Nicht zuletzt auch diese Zahlen lassen einige von einer regelrechten „Erpressung“ der GDL sprechen. Weselsky habe „Maß und Mitte verloren“, kritisiert auch Gitta Connemann, Chefin der Mittelstandsunion. „Es darf nicht sein, dass Lokführer dem ganzen Land ihren Willen aufzwingen.“ Niemand wolle Streiks verbieten, aber es brauche „Regeln für die kritische Infrastruktur oder die Daseinsvorsorge.“ Das betreffe neben der Bahn auch Krankenhäuser, Pflegedienste, Flughäfen oder Wasser- und Energieversorger. „Denn dort hat eine Auseinandersetzung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern Konsequenzen für Millionen von Unbeteiligten“, betont sie. Konkret fordert Connemann, dass in solchen Fällen „Streiks mindestens vier Tage vorher angekündigt werden, es sollte Notfallpläne geben und die Gewerkschaften sollten erst streiken dürfen, wenn es zuvor einen Schlichtungsversuch gab.“ Diesen gab es nach der zweitägigen Verhandlung zwischen GDL und Bahn nämlich nicht. Ein Schlichtungsverfahren ist in Deutschland aktuell nicht verpflichtend, sondern auf freiwilliger Basis. „Seit Einführung des Grundgesetzes hat die Rechtsprechung das Streikrecht immer zu Gunsten der Arbeitnehmerseite weiterentwickelt“, beklagt Connemann. Gesetzliche Regelungen, was und insbesondere in welchem Umfang erlaubt ist, existieren nicht.
Auch die FDP fordert eine Konkretisierung der Gesetzeslage: „Wir haben in Deutschland kein Gesetz, das das Streikrecht konkret regelt, es gibt nur verschiedene Gerichtsurteile, ohne die eindeutige Festlegung von Regelungen“, so der sozialpolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion Pascal Kober. „Vor diesem Hintergrund und mit Blick auf aktuelle Beispiele von Streiks, die die Allgemeinheit in immer neuem Ausmaß beeinträchtigen, ist es sinnvoll, zu diskutieren und zu prüfen, ob die Einhaltung von Verhältnismäßigkeit besonders im Bereich der kritischen Infrastruktur durch gesetzliche Vorgaben sichergestellt werden sollte.“
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) äußerte sich diesbezüglich eher verhalten, bat die GDL von ihrem Streikreicht „maßvoll“ Gebrauch zu machen, betonte aber zugleich: „Arbeitskämpfe zu führen gehört zu den Freiheiten, die in unserem Grundgesetz so fest geregelt sind, dass sie nicht einfach abgeschafft werden können – auch nicht durch Gesetze.“
Notfallplan und frühe Ankündigung
Weselsky ist von den Forderungen selbstredend nicht angetan: „Das ist ein Eingriff in das Streikrecht, das die Verfassung garantiert. Dagegen wehre ich mich mit Nachdruck“, so der GDL-Boss. Als Grund für die aktuelle Situation benennt er unter anderem die Privatisierung der Bahn 1993. „Diese Privatisierungseuphorie hat heute fatale Folgen“, sagt er. Einen Rückgang der Unterstützung in der Bevölkerung wie „etwa in der BILD-Zeitung“ suggeriert werde, sehe er nicht: „Die Menschen, denen ich begegnet bin, haben sehr viel Verständnis für uns aufgebracht.“
Am 5. Februar hat die nächste Verhandlungsrunde zwischen Deutscher Bahn und GDL begonnen, bis zum 3. März soll eine Einigung erzielt werden. Bis dahin gilt eine Friedenspflicht, es darf also erst einmal nicht gestreikt werden. Von einem versöhnlichen Ende ist allerdings erst einmal nicht auszugehen. Das Verhältnis zwischen GDL und Bahn ist zerrüttet und der Zustand der Bahn auch ohne wütende Lokführer verheerend, wie der Konzern vor wenigen Monaten selbst in Teilen zugeben musste. Ein weiterer Streik kann also nicht ausgeschlossen werden – und auch er wird die Debatte ums Streikrecht weiter hochkochen lassen.
Dass strengere Regelungen im Streikrecht funktionieren können, zeigen Beispiele aus dem Ausland: In einer Vielzahl der europäischen Staaten sind Ankündigungspflichten von fünf bis sogar zehn Tagen Usus. In den USA und in Frankreich gelten zudem ähnliche Regelungen, wie von Connemann gefordert: Auch hier muss ein Notdienst gewährleistet sein, wenn es kritische Bereiche betrifft. Italien geht noch einen Schritt weiter und hat eine gesetzliche Verpflichtung zu einem Schlichtungsgespräch eingeführt. Bahnstreiks in Italien sind zudem zeitlich begrenzt: So darf die Bahn täglich nur vier Stunden, zwischen 9 und 13 Uhr bestreikt werden. Bei einem Verstoß drohen Sanktionen. Seit Ende der 90er Jahre gibt es Vorschriften, dass es zu Stoßzeiten immer ein gewisses Mindestangebot geben muss. In Großbritannien wird zurzeit über eine ähnliche Regelung beraten.
Beim in Deutschland zuständigen Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) gibt es allerdings keine Pläne, in eine vergleichbare Richtung zu lenken. „Die entlang des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes entwickelte arbeitsgerichtliche Rechtsprechung zur Zulässigkeit von Arbeitskampfmaßnahmen hat sich in der Praxis grundsätzlich bewährt, was sich auch in den im internationalen Vergleich geringen streikbedingten Arbeitsausfällen zeigt“, heißt es aus dem SPD-geführten Haus.
In der Tat streiken deutsche Arbeitnehmer vergleichsweise selten, doch die Konzentration auf den Verkehrsbereich sorgt dafür, dass viele Menschen davon betroffen sind und so der Eindruck entsteht, dass es mehr Streiks gibt als früher. Doch ob dieses Wissen die Stimmung an deutschen Bahnhöfen verbessern wird, sei einmal dahingestellt.