Zwei Jahre nach dem Einmarsch in die Ukraine ist Russland im Vorteil
Amerika als Helfer in der Not: Dieses jahrzehntelange Versprechen wird brüchig, es erodiert. Das bekommt an vorderster Front die Ukraine zu spüren, die sich in einer verzweifelten Abwehrschlacht den russischen Aggressoren entgegenstellt.
Vor einem Jahr war das noch anders. Die US-Vizepräsidentin Kamala Harris verkündete im Februar 2023 bei der Münchner Sicherheitskonferenz: „Die USA werden die Ukraine weiterhin unterstützen. Und wir werden dies tun, solange dies nötig ist.“ Bei der diesjährigen Sicherheitskonferenz am vergangenen Wochenende schwächte Harris ihre Zusage ab. „Sie haben klargemacht, dass Europa der Ukraine beistehen wird“, sagte sie den in München versammelten Spitzenpolitikern. „Und ich mache klar, dass Präsident Joe Biden und ich der Ukraine beistehen werden.“
Die Verpflichtung gilt also nur für den Präsidenten und seine Stellvertreterin – nicht mehr für das Land. Amerikas Funktion als Schutzmacht ist nicht mehr garantiert. Die oppositionellen Republikaner im Repräsentantenhaus blockieren ein Waffenpaket in Höhe von 60 Milliarden Dollar, auf das die Ukraine so dringend angewiesen ist. Sie können das, weil der Kongress die Budget-Hoheit hat. Knapp neun Monate vor der US-Präsidentschaftswahl gerät Russlands Angriffskrieg ins Räderwerk der Innenpolitik. Die schrille Doktrin des Kandidaten Donald Trump – „Amerika zuerst“ – übertönt alles.
Die Leidtragenden dieses neuen Isolationismus sind vor allem die Ukrainer. Sie gingen in dem Krieg, der sich am 24. Februar zum zweiten Mal jährt, durch ein Wechselbad der Gefühle. Nach dem Beginn der Invasion stand das Land am Abgrund. Es schien, als könnten die Russen in wenigen Tagen Präsident Wolodymyr Selenskyj aus dem Amt jagen und eine Satellitenregierung installieren. Doch die Ukrainer waren mental stark und hielten den Russen stand. Im Sommer und im Herbst 2022 gelangen ihnen sogar Durchbrüche in den Regionen Cherson und Charkiw.
Glühende Optimisten träumten von einem Vorstoß bis zum Schwarzen Meer. Doch die Anfang Juni 2023 begonnene Gegenoffensive im Süden verpuffte. Die zum Teil schleppenden Waffenlieferungen aus dem Westen verschafften Moskau einen Zeitvorteil. Die russischen Truppen konnten mehrere Verteidigungslinien errichten.
Darüber hinaus verfügen sie über schier unbegrenzte Ressourcen an Menschen und Material. Nach Angaben von Jack Watling vom Londoner Militärforschungsinstitut RUSI steigerte Russland die Größe seiner Streitkräfte in der Ukraine seit Anfang 2023 von 360.000 auf 470.000 Soldaten. Das Land betreibe eine „Kriegswirtschaft“ mit maximaler Rüstungsproduktion. Die Ukraine zählt laut der Londoner Denkfabrik International Institute for Strategic Studies (IISS) 800.000 aktive Militärs. Doch die Kräfte sind vom Dauereinsatz an der Front erschöpft. Ein Mobilisierungsgesetz, das 500.000 neue Soldaten bereitstellen soll, kam bisher nicht zustande.
Noch gravierender ist der eklatante Mangel an Munition. Nach einem Bericht der Zeitung „Kyiv Independent“ hatten Panzer der 59. Brigade bei der letzten erfolgreichen ukrainischen Offensive im Herbst 2022 noch 120 Granaten pro Tag – Ende 2023 seien es nur noch maximal 20 gewesen.
Diese Unterlegenheit erklärt, warum die Russen die Stadt Awdijiwka im Osten nach vier Monaten heftiger Kämpfe einnehmen konnten. Der Vormarsch auf Bachmut im Mai 2023 war noch ein eher symbolischer Sieg. Die Eroberung des Eisenbahnknotenpunktes Awdijiwka ist hingegen ein strategischer Erfolg, der den Russen weiteres Momentum verleihen könnte. Die Dynamik des Krieges hat sich zu Ungunsten der Ukraine gedreht.
Ist der Westen bereit, die Regierung in Kiew mit allen Waffen auszustatten, um sich zu behaupten? Die Angst, dass sich Putins Russland nach einer Niederlage der Ukraine ermuntert fühlen könnte, selbst Nato-Gebiet anzugreifen, ist inzwischen auch in Riga, Warschau oder Berlin angekommen. Der Satz von Bundeskanzler Olaf Scholz „Ohne Sicherheit ist alles andere nichts“ klingt wie ein politisches Glaubensbekenntnis und hat weitreichende Konsequenzen. Die innenpolitische Debatte, wie viele Milliarden Euro die Bundesrepublik künftig für die eigene Verteidigung und für die Unterstützung der Ukraine ausgeben will, muss allerdings erst noch geführt werden.