Wer beim Ruhrgebiet immer noch graue Bergbau-Tristesse vor Augen hat, sollte schleunigst den Fahrradsattel besteigen: Insgesamt 15 „RevierRouten" führen in eine bezaubernd grüne Natur, vorbei an eindrucksvoller Industriearchitektur.
Vom Fahrrad aus zeigt sich der Ruhrpott von einer ganz interessanten und schönen Seite. FORUM-Autorin Alexa Christ hat es mal ausprobiert.
Tag eins: Probierstück
Als ich das Trekkingrad in Empfang nehme, mit dem ich in den nächsten vier Tagen das Ruhrgebiet erkunden will, prophezeit mir der freundliche Verleiher „Sehenswürdigkeiten über Sehenswürdigkeiten". Tatsächlich stehe ich gerade in einer. Seit 2001 ist die ehemalige Essener Zeche Zollverein Unesco-Erbe. Ein riesiges Areal aus Schacht- und Förderanlagen, Zechengebäuden und Kokerei, umgestaltet zum Industriedenkmal. Es verdient gebührende Aufmerksamkeit – die ich an diesem Tag nicht aufbringen kann. Weil es schon später Nachmittag ist, hebe ich mir Zollverein für den Abschlusstag auf und radle sofort los. Über ein Knotenpunktsystem lässt sich das Ruhrgebiet auf gut 1.200 Radkilometern erkunden. Die 15 „RevierRouten" – Rundkurse von knapp 30 bis 70 Kilometern Länge – sorgen dafür, dass kein Highlight links liegen bleibt. Mit 29 Kilometern ist das „Probierstück" die kürzeste Tour und damit perfekt für den Anreisetag. Vom Zollvereinweg, einer ehemaligen Bahntrasse, über die einst die Kohlewaggons rollten, geht es recht schnell hinein ins Grün-Urbane. Die Städte des Ruhrgebiets haben die Eigenart, scheinbar nahtlos ineinander überzugehen. Dass ich mich nach wenigen Kilometern bereits in Gelsenkirchen befinde, merke ich erst daran, dass ich an einem „Schalke 04"-Kiosk vorbeikomme. Fiege-Pils, Bockwurst und Eiscreme, an den Wochenenden Live-Musik und Grillgut: Was zu einer echten Revier-Bude gehört, lernt der Radler am Knotenpunkt 46. „Als der Holger hier vor zwölf Jahren seine Erzbahnbude aufgestellt hat, haben ihn alle für verrückt erklärt", erzählt Mitarbeiter Marius, der nicht mal fürs Foto die tiefdunkle Sonnenbrille abnimmt. „Damals gabs ja noch keinen geteerten Radweg, sondern nur staubige Schotterpiste." Die Zeiten sind längst vorbei. An der Kult-Bude biege ich auf den „Champagnerasphalt" der Erzbahntrasse, über die einst die Bochumer Hochöfen mit Eisenerz versorgt wurden. An deren Ende wartet ein echtes Brücken-Highlight, die Grimberger Sichel. Seit 2009 spannt sich die asymmetrische Stahlkonstruktion 150 Meter weit über den Rhein-Herne-Kanal. Das Ding scheint frei zu schweben, ein echter Hingucker. Genau wie der Kanal, über den Ausflugsboote und Kanus ziehen, aber auch Frachtschiffe. Spannender finde ich jedoch die parallel verlaufende Emscher. Der 83 Kilometer lange Nebenfluss des Rheins, einst auch als „Kloake des Ruhrgebiets" bekannt, wurde allzu lange als Abwasserkanal missbraucht. „Köttelbecke" lautete der wenig schmeichelhafte Beiname. Ein unterirdisches Abwassersystem war im Ruhrgebiet nicht möglich, solange Bergbau betrieben wurde. Erst mit den Zechenschließungen in den 1980ern wurde dieser Missstand beseitigt und es begann die Renaturierung des geschundenen Flusses. Ein jahrzehntelanges Projekt, doch am 1. Januar 2022 konnte man stolz verkünden: „Die Emscher ist abwasserfrei!" Und so radle ich gänzlich unbegleitet von Gestank weiter bis in den Gelsenkirchener Nordsternpark, in dem schon von Weitem der monumentale „Herkules" des bekannten Künstlers Markus Lüpertz mir zuzuwinken scheint. Die Skulptur mit dem riesigen Kopf und den blauen Haaren steht auf einem Förderturm der früheren Zeche Nordstern. Kurz winke ich dem Helden zurück, dann nehme ich die letzten Kilometer in Angriff. Einmal über die ehemalige Bahntrasse Nordsternweg auslaufen lassen nach Zollverein. Einradeln geglückt. Ruhrgebiet, du lässt dich gut an.
Tag zwei: Von Ruhr zu Ruhr
Ab Essen ist es eine kurze Fahrt mit der S-Bahn bis Hattingen, der zweitgrößten Stadt des Ennepe-Ruhr-Kreises. Startpunkt meiner heutigen Tour ist die Henrichshütte, auf der 150 Jahre lang Eisen und Stahl erzeugt, gegossen, geschmiedet und gewalzt wurden. Eine echte Institution im Pott. 1987 dann das Ende – die ältesten Hochöfen des Reviers wurden „ausgeblasen". Über 100 chinesische Arbeiter zerlegten den Hochofen II und verschifften ihn nach Hunan. Und in Hattingen? Blieb Hochofen I, den man als Teil des heutigen Industriemuseums erklimmen kann. Doch ich habe knapp 60 Radkilometer vor mir, noch dazu fast 500 Höhenmeter. Für das Ruhrgebiet eine wahre Gipfeltour, was daran liegt, dass die Etappe durch das Bergische Land führt. Nomen est omen. Zum Glück beginnt alles ganz moderat. Schnell ist die Ruhr erreicht und damit Idylle pur! Zwei Graureiher staksen durch die Felder. Auf einem Felssporn thront die Burg Blankenstein mit ihrem viereckigen Graf-Engelbert-Turm. Träge fließt der Fluss dahin, an dem sich eine herrliche Badebucht an die nächste reiht. Fast bedaure ich, keine Schwimmsachen dabei zu haben. Ein Gefühl, das sich noch verstärkt, als ich den Kemnader See erreiche, den jüngsten der sechs Ruhrstauseen. Ein Strandbad mit Palmen und Schirmen, fast kommt so was wie Karibikfeeling auf! Doch ich radle weiter Richtung Witten, bis zur Ruhrtalfähre, mit der ich auf die andere Seite übersetze. Hier liegt mit der Zeche Nachtigall die Wiege des Ruhrbergbaus, beinahe versteckt im schönen Muttental. Schon vor 300 Jahren gruben Bauern Löcher in den Boden, sogenannte Pingen, und bauten oberflächlich Kohle ab. 1714 wurde der erste Antrag auf Förderung gestellt, 1832 der erste Tiefbauschacht abgeteuft. Nachtigall war aber nicht nur Zeche, sondern auch Ziegelei, Sandsteinbruch und Schrottplatz. Heute? Museum. Ich hocke mich auf eine Backsteinmauer, nasche süße Brombeeren von einer wilden Hecke. Dann gehts weiter. Jetzt macht das Bergische Land seinem Namen alle Ehre. Ein stetes Auf und Ab, die sanft gewellte Landschaft mit Wald und Weiden ist das zentrale Erlebnis dieser Tour. Über Sprockhövel rolle ich schließlich wieder hinunter nach Hattingen, bis in die schöne Altstadt. Fast 150 mittelalterliche Fachwerkhäuser. Auch das kann das Revier. Am Untermarkt gönne ich mir ein kühles Radler, lasse den Blick schweifen. Ruhrgebiet, du überraschst.
Tag drei: Gartenstadt
Eigentlich startet die Tour in Mülheim an der Ruhr, doch ich schummle und beginne im Essener Süden. „Die Kettwiger Altstadt steht heutzutage sogar in chinesischen Reiseführern", sagt eine Blumenladenbesitzerin, als sie mich die Kamera zücken sieht. Die historischen Gassen mit den netten Cafés und den hübschen Lädchen entsprechen so gar nicht meiner Vorstellung einer Kohlenpott-Stadt. Pittoresk, anders kann man den Stadtteil, der direkt an der Ruhr liegt, nicht nennen. Als ich an den Fluss gelange, schummle ich ein zweites Mal. Eigentlich führt die „RevierRoute" auf die rechte Ruhrseite, aber der Leinpfad, der ehemalige Treidelpfad links des Flusses, sei angeblich viel schöner. In der Tat – er führt direkt durch das Naturschutzgebiet Saarn-Mendener Ruhraue. Ein wahres Vogelparadies. Hier können Kormorane und Eisvögel, Reiher, aber auch Biber gesichtet werden. Es ist eine Tour der Kontraste, denn als nächstes gelange ich nach Mülheim und auf den Radschnellweg Ruhr (RS1), der irgendwann mal über 101 Kilometer von Duisburg bis nach Hamm führen soll. Die Zukunft der Mobilität – eine echte Rad-Autobahn! Entsprechend schnell erreiche ich wieder Essen, wo ein Höhepunkt den nächsten jagt: Die Margarethenhöhe, erste Gartenstadt Deutschlands, von 1906 bis 1938 erbaut, sehr hübsch anzuschauen. Der Grugapark mit dem Ronald-McDonald-Haus, einem Hundertwasser-Bau, der Familien mit schwerkranken Kindern Wohnen auf Zeit bietet. Der Baldeneysee, Stausee und Naherholungsgebiet. Hier schummle ich ein drittes Mal, fahre entlang des Nordufers und radle zur Villa Hügel, die den „Royals des Ruhrgebiets", der Industriellenfamilie Krupp, über vier Generationen als „bescheidene" Wohnstatt diente. Eingetragen ist der Prachtbau mit seinen 269 Zimmern und den 8.100 Quadratmeter Wohnfläche im 28 Hektar großen Park doch tatsächlich als Einfamilienhaus! Weil Erbauer Alfred Krupp noch zu Lebzeiten auf einen Wald blicken wollte, ließ er ausgewachsene Bäume versetzen. 66 Bedienstete kümmerten sich um das Anwesen, zu dem auch Tennisplätze und Reitanlagen, Ställe, Gästehaus und Kegelbahn gehörten. Zwei Generationen später brauchte es schon 648 Angestellte, die auf der Villa Hügel nach dem Rechten sahen. Während ich die letzten Kilometer zurück nach Kettwig radle, denke ich: Ruhrgebiet, du kannst auch Protz.
Tag vier: Grubenfahrt
2018 schloss mit Prosper Haniel die letzte Steinkohlenzeche Deutschlands. Ende einer Ära. Grund genug, noch einmal an der Zeche Zollverein zu starten und den Mythos Kohle zu erradeln. Auf den ersten Kilometern erhalte ich Gesellschaft. Thomas, gebürtiger Essen-Rüttenscheider, ist auf dem Nachhauseweg. Wir plaudern über gängige Ruhrpott-Klischees. „Im Essener Norden ist er noch anzutreffen: der Laubenpieper im weißen Unterhemd mit Bierflasche in der Hand", sagt Thomas und biegt augenzwinkernd Richtung Süden ab. Über Bottrop führt mich die Route nach Oberhausen und zu einem spontanen Abstecher Richtung Gasometer. Wo erst Gichtgas, später Kokereigas gespeichert wurde, befindet sich heute die mit 117 Metern höchste Ausstellungs- und Veranstaltungshalle Europas. Im Luftraum des Gasometers werde ich unvermittelt zur Astronautin. Eine 20 Meter große Erdkugel wird hier präsentiert, auf die hochaufgelöste Satellitenbilder projiziert werden – ein Blick wie aus dem Weltall auf unseren blauen Planeten, atemberaubend! Wie beschwingt radle ich danach durch das hübsche Hexbachtal und die Essener Innenstadt zurück nach Zollverein, der einst größten und leistungsstärksten Steinkohlezeche der Welt. Der „Eiffelturm des Ruhrgebiets" ist Treffpunkt für die Führung von Ulrich Frohnert, ehemaliger Feuerwehrmann. Er erzählt viel vom Weg der Kohle und dem harten Arbeitsalltag der Kumpel, von den „Ewigkeitskosten", die das durchlöcherte Erdreich verursacht, aber auch von den berühmten Architekten, die die Zeche zu einem lebendigen Kulturzentrum umgebaut haben: Sir Norman Foster, Rem Koolhaas, Christoph Mäckler, das japanische Architekturbüro Sanaa. Auf dem Gelände könnte man sicher einen ganzen Tag verbringen, das Ruhrmuseum und das Red Dot Design Museum erkunden, interessante Fotoausstellungen besuchen oder im Phänomania Erfahrungsfeld die eigenen Sinne aktivieren. Oder man lässt sich so wie ich einfach treiben – vorbei an der schwulen Hochzeit, die mit großer Party im Biergarten der Kokerei gefeiert wird, hin zur riesigen Gourmetmeile, die zu meinem großen Glück gerade über vier Tage die Zeche kulinarisch in Szene setzt. Passender könnte der Abschluss nicht sein, denn vier Tage Radfahren machen ordentlich Appetit, und so gönne ich mir „Wan Tan von Steinbutt und Garnele an Chinakohl-Papaya-Salat, Sushi-Ingwer und Passionsfrucht". Hm, himmlisch! Soll noch mal einer behaupten, im Revier gäbe es nur Pommes Schranke und Currywurst. Ruhrgebiet, du schmeckst.