Es ist ein nicht alltägliches Umfeld, in dem Hamid Ismailov seinen Roman „Wunderkind Erjan" ansiedelt: die kasachische Steppe, die alles andere als unberührt ist, auch wenn sie so aussieht. Durch sie schlängelt sich ein Zug, in dem die Rahmenhandlung spielt. Ein kleiner Wicht spielt darin lässig einen ungarischen Tanz von Brahms auf der Violine. Er sei schon 27 Jahre alt, sagt er dem Ich-Erzähler, zeigt zum Beweis einen Ausweis und erzählt seine Geschichte. Irgendwo an der Strecke ist der kleinwüchsige Erjan aufgewachsen. Er kann noch kaum gehen, da bringt er sich schon Musikstücke auf der Dombra bei, dem Zupfinstrument des Großvaters. Die Familie nennt ihn „Wunderkind" und lässt ihn bei dem Bulgaren Petko, der einst bei Dawid Oistrach gelernt hat und jetzt mit einem Bautrupp in der Nähe in einem Bauwagen haust, Unterricht nehmen.
Autor Hamid Ismailov ist in Kirgistan nahe der kasachischen Grenze geboren und in Usbekistan aufgewachsen. Er hat dem Roman eine Mitteilung aus dem kasachischen Parlament vorangestellt. Darin wird von 468 Kernexplosionen gesprochen, die zwischen 1949 und 1989 auf dem Atomwaffentestgelände von Semipalatinsk ausgelöst wurden, in der Verbotszone nicht weit hinter dem Haus von Erjans Familie. Fast kontrapunktisch ist eine zarte Liebesgeschichte eingeflochten: die zwischen Erjan und der ein Jahr jüngeren Aysulu aus der Nachbarsfamilie. Eines Tages lädt Aysulus Vater die ganze Schulklasse zur Exkursion an seinen Arbeitsplatz im Atomstädtchen ein. Auch den Toten See, entstanden nach der Zündung einer Atombombe, dürfen die Kinder sehen. Nur berühren sollen sie das Wasser nicht. In einem unbeobachteten Moment springt Erjan hinein. Da passiert es: Er wächst nicht mehr, bleibt Kind.
Übersetzer des Romans ist Andreas Tretner, der dieses Jahr für den Übersetzerpreis der Leipziger Buchmesse nominiert wurde. Er meistert insbesondere die schwierige Aufgabe, kasachische Liedtexte klangschön ins Deutsche zu transponieren.