Gas wird in den kommenden Monaten zum entscheidenden Energieträger – und der Verbrauch eine Zahl, auf die ganz Deutschland blickt. Diese hängt vom Wetter ab, das derzeit im Vergleich zu den Vorjahren etwas kälter ist, und von der Sparbereitschaft.
Der „Doppel-Wumms" muss sitzen. Die nie in Kraft getretene Gasumlage ist bereits Geschichte. Die von der Ampelkoalition auf den Weg gebrachte Gaspreisbremse in Höhe von 200 Milliarden Euro soll helfen, die astronomisch gestiegenen Gas- und Strompreise zu deckeln. Vielleicht eine kleine Verschnaufpause für Deutschland vor einem ungewissen Winter. Auch wenn die Gasspeicher mit rund 240 Milliarden Kilowattstunden (kWh) laut Bundesnetzagentur (BNA) nahezu voll sind, reicht das bei einem jährlichen Gesamtverbrauch von etwa 1.000 Milliarden kWh für nur zwei Monate. Ohne die Zuführung von Flüssiggas, weiteren Gaslieferungen aus Norwegen, den Niederlanden, Belgien und anderen Quellen sowie drastisches Energiesparen bis zu 20 Prozent aller Kunden reicht das nicht aus, wenn der Winter kalt wird. Denn eines ist sicher: Durch die Northstream-Leitungen wird nach den Anschlägen nie wieder Gas aus Russland nach Deutschland fließen, über die Jamal-Pipeline über Weißrussland, Polen und Ukraine kommen nur noch Minimalmengen an. Deutschland hängt im Gasbereich am Tropf von zwei Euro-Pipelines von Norwegen durch die Nordsee und das in der Hoffnung, dass diese Infrastruktur nicht auch noch attackiert wird. Denn über ein LNG-Terminal wie in anderen westeuropäischen Ländern verfügt Deutschland noch nicht.
Wirtschaft kann nicht so einfach Gas sparen
Dieses düstere, aber realistische Szenario zeichnete Dr. Hanno Dornseifer, Vorstand des größten saarländischen Energieunternehmen VSE Ende September: Alles hänge davon ab, wie kalt der Winter wird. Das Prekäre an der Lage: 36 Prozent des Gasverbrauchs entfällt auf die Industrie, 30 Prozent auf die Haushalte, 12 Prozent auf die Stromerzeugung und der Rest auf Handel und Dienstleistung. Mögen die Haushalte, von denen in Deutschland etwa die Hälfte mit Gas heizen, irgendwie noch über den Winter kommen, die Industrie kann auf Gas im Produktionsprozess nicht verzichten. Nur ein Beispiel: Der größte deutsche Verbraucher ist BASF, stellt zirka 20.000 Vorprodukte her, unter anderem für Medikamente. Ein wirtschaftlicher GAU droht, wenn solche Verbraucher bei einer Gasmangellage leer ausgehen. Die Bundesnetzagentur würde zum Bundeslastverteiler und müsste entscheiden, wer mit Gas versorgt wird und wer nicht. Ein Job, um den BNA-Präsident Klaus Müller nicht zu beneiden ist. Die Folgen der Notfallstufe 3 des Bundeswirtschaftsministeriums wären im Vergleich zur Corona-Krise immens. Insolvenzen, steigende Arbeitslosigkeit und soziale Verwerfungen die Konsequenz.
Eine Krise, die schon jetzt konkrete Auswirkungen hat, sagt auch Birgit von Oetinger, Geschäftsführerin der Bäckerei Josef Welling aus Saarwellingen mit zwölf Filialen. „3,5 Prozent Energiekosten entfallen auf die Kalkulation des Endprodukts. Die Energie an der Börse kostet derzeit zehn Mal so viel. Diese Kosten sind nicht mehr umzulegen, zumal sich die Kosten für Mehl und Zucker verdoppelt haben und die Personalkosten ebenfalls steigen." Die schon jetzt spürbaren Konsequenzen: Weniger Produkte und Verkürzung der Ladenöffnungszeiten. Aber ein permanenter Kostenanstieg könne selbst ein finanziell gesundes Unternehmen auf Dauer nicht überleben. „Irgendwann sind alle Reserven aufgebracht", mahnt von Oetinger.
Die Gaskrise könnte demnach die deutsche Volkswirtschaft dramatisch ins Wanken bringen. Die Gefahr einer Stromkrise mit großflächigen Blackouts sieht Dornseifer dagegen nicht, da die Netzinfrastruktur in Europa eine andere ist als beim Gas. Bedingung sei allerdings, dass alle verfügbaren Stromerzeugungskapazitäten wie die drei verbliebenen Atomkraftwerke und die Kohlekraftwerke ans Netz kommen oder am Netz bleiben. „Der Fehler, aus der konventionellen Energieerzeugung vorzeitig auszusteigen, ohne die Versorgungssicherheit zu gewährleisten, fällt uns nun auf die Füße", so Dornseifer.
Die Versorgungssicherheit beim Gas hängt nun auch am Wetter – und den Verbrauchern. Der Industrieverbrauch von Gas ist im Sommer gesunken. Die großen Industriekunden benötigen rund 60 Prozent des Gases. Der Verbrauch dieser großen Verbraucher sank im August um 22 Prozent und lag auch Ende September deutlich unter dem durchschnittlichen Verbrauch der Vorjahre (1170 GWh/Woche gegenüber durchschnittlich 1679 GWh/Woche in den Jahren 2018 bis 2021). Während der Deutsche Industrie- und Handelskammertag darauf drängt, Hürden für das Umstellen der Betriebe von Gas auf alternative Energieträger zu beseitigen, bleibt den Haushalten meist nur das Herunterdrehen der Heizung. Denn im Gegensatz zu Industrie und Gewerben wird hier mit Gas nur geheizt. Ein Grad Temperaturunterschied macht dabei schon einiges aus: Laut Verbraucherzentrale spart jedes Grad etwa sechs Prozent Heizkosten und damit Energie.
Die Zahlen der Kleinverbraucher aber waren im Licht der aktuellen Krise nicht mehr adäquat. In den vergangenen Jahren wurden diese von den Netzbetreibern aufgrund von sogenannten Standard-Lastprofilen geschätzt. Diese Zahlen reichten für den normalen Betrieb offenbar aus, jetzt müssen genauere Daten her. Diese berechnet die Bundesnetzagentur nun mit einem eigenen Verfahren. Vergleichswerte aus den drei vorangegangenen Jahren sind ebenfalls kaum aussagekräftig: 2020 und 2021 beeinflusste die Pandemie den Gasverbrauch maßgeblich, 2019 war der Winter vergleichsweise mild. Derzeit liegen die Temperaturen im Vergleich zum Durchschnitt der vorangegangenen Jahre bis 2018 etwas niedriger. Während sich der Gasverbrauch von Haushalten und Gewerbe bis Mitte September zum Teil deutlich unter den durchschnittlichen Verbräuchen der Vorjahre bewegte, lag er Ende September mit 483 GWh/Woche deutlich über dem durchschnittlichen Wert der Jahre 2018 bis 2021 (422 GWh/Woche; +14,5 Prozent). „Die Bundesnetzagentur geht im Moment davon aus, dass zur Vermeidung einer Gasmangellage ein Rückgang des Verbrauchs um mindestens 20 Prozent erforderlich ist."
Energiewende ist der einzig sinnvolle Weg
Die deutsche Industrie arbeitet daran, wenn auch zähneknirschend, nun sind auch die Verbraucher am Zug. Nüchtern betrachtet steht Deutschland vor einem energiepolitischen Scherbenhaufen: Nie war die Abhängigkeit vom russischen Gas sichtbarer, die Politik „Wandel durch Handel" ist gescheitert, die Wärmewende kommt nicht voran wegen langjähriger Genehmigungsverfahren, Gutachten und überbordender Bürokratie und Protesten aus der Bevölkerung. Allein der Ausbau der Erneuerbaren bei der Stromerzeugung auf 50 Prozent hat in Deutschland über 20 Jahre gedauert. Doch die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt: Nie zuvor wurden Gesetze im Energiebereich so schnell erlassen wie derzeit, nie wurde so viel Geld zur Versorgungssicherheit in so kurzer Zeit von einer Bundesregierung in die Hand genommen, nie zuvor wurde nicht nur der Politik, sondern auch der Wirtschaft klar, dass die Energiewende der einzig gangbare Weg ist, von der fossilen Energieabhängigkeit loszukommen und den Klimaschutz voranzubringen. Paradox, dass ausgerechnet ein grüner Wirtschaftsminister alle Ideale über Bord werfen muss, um das für die Volkswirtschaft überlebenswichtige Ziel der Energieversorgungssicherheit zu erreichen. Nur mit kühlem Sachverstand, mit viel Geld und ein bisschen Glück beim Wetter kann Deutschland diese Krise meistern.