FORUM spricht mit dem grünen EU-Abgeordneten und Migrationsexperten Erik Marquardt darüber, wie man europaweit Fluchtursachen begegnen kann und warum Deutschland dringend einen Migrations-Sonderbevollmächtigten braucht.
Erik, wir duzen uns, weil wir uns schon länger kennen. Wie hat sich die Migrations- und Flüchtlingslage in den vergangenen Monaten in Deutschland und in Europa aus Deiner Sicht entwickelt?
Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg auf die Ukraine hat dazu geführt, dass wir mehr als eine Millionen Menschen zusätzlich aufgenommen haben. Man muss die Debatte auch darauf fokussieren, wie man mit dieser Situation umgehen kann. Und nicht die Schuld auf diejenigen Menschen laden, die zusätzlich über die Balkanroute fliehen. Die Anerkennungsquoten für diese Menschen sind sehr hoch. Die größten Gruppen, die über die Balkanroute fliehen, kommen aus Syrien, Afghanistan und dem Irak. Es ist falsch so zu tun, als hätten die Menschen aus Syrien auf einmal gar keinen Grund mehr zu fliehen, obwohl sie in aller Regel einen Schutzstatus bekommen. Wenn konservative Politiker sagen, es sei Schuld der Regierung, dass die Menschen nach Europa fliehen, ist das eine sehr selbstbezogene Debatte. Da versucht man kurzfristig, politische Geländegewinne zu machen. Wichtiger wäre, dass man auf kommunaler, auf Landes-, Bundes- und auch auf europäischer Ebene schaut, wie man mit der Situation umgeht, dass so viele schutzbedürftige Menschen nach Deutschland und Europa kommen, die auch verdient haben, gut untergebracht zu werden.
Der CDU-Bundestagsabgeordnete Thorsten Frei hat der Ampel-Koalition vor Kurzem in einem Interview vorgeworfen, weitere Anreize zu schaffen, dass immer mehr Migranten nach Deutschland kommen. Auch sprach er von einer „migrationspolitischen Geisterfahrt der Ampel“. Du hast als einer von vier Grünen-Politikern 2021 an den Koalitionsverhandlungen zu den Themen Migration und Asyl mitgewirkt. Gibt es jetzt eventuell einen Änderungsbedarf hinsichtlich der deutschen Flüchtlingspolitik?
Niemand hat damit gerechnet, dass wir zusätzlich mehr als eine Millionen Geflüchtete aufnehmen würden. Sich darauf einzustellen ist nicht leicht, weil wir Strukturen etabliert haben, die von dem Team der Symptombekämpfer geschaffen wurden. Dazu zählt auch Thorsten Frei. Man hat versucht, die Aufnahmekapazitäten möglichst kleinzurechnen und man hat keine resilienten Strukturen geschaffen. Die CDU/CSU geführte Regierung war lange genug selbst im Europäischen Rat und hat dort jahrelang gegen ein besseres Europäisches Asylsystem gearbeitet. Die Ampel als migrationspolitische Geisterfahrer darzustellen und die Debatten um „Sozialtourismus“ sind offensichtliche Versuche, die Gesellschaft zu spalten. Die CDU/CSU hat auch versucht, gegen das Bürgergeld zu argumentieren, weil es den Ausländern helfe und Geflüchtete nach Deutschland ziehe. Die Migrationswissenschaft und aktuelle Studien widerlegen aber die Aussagen der Union, das scheint ihnen nur völlig egal zu sein. Das ist eine völlig faktenbefreite Debatte. Die Opposition irrlichtert da weitgehend herum und macht selbst eine Geisterfahrt, weil sie keine umsetzbaren Vorschläge anbietet. Das hilft dann am Ende den Rechtspopulisten. Im Koalitionsvertrag steht, dass die Menschen, die nach Deutschland kommen und schutzbedürftig sind, schnellstmöglich eine Chance bekommen sollen. Damit versucht man hinzubekommen, dass sie schnell in die Gesellschaft integriert werden, schnell Arbeit finden können, schnell arbeiten dürfen. Diese Punkte sollte man rasch umsetzen, besonders weil so viele Leute kommen. Unsere Aufgabe ist es, herauszufinden, wie wir es schaffen, die vielen Menschen, die nach Deutschland kommen, in ein schnelleres und faireres Asylverfahren zu bringen. Und den Menschen, die schon da sind, Perspektiven zu bieten. Viel stärker als die vorherige Regierung investieren wir in Sprachkurse und Migrationsberatung. In der Tat gibt es da eine andere Philosophie als die der CDU/ CSU, die sagt: Wir müssen die Hürden hochhalten, damit wir die Leute abschrecken, nach Deutschland zu kommen. Das hilft nur nichts, weil wir auch erlebt haben, dass unabhängig davon, ob man sehr bürokratische, dysfunktionale Regelungen hat, Menschen trotzdem fliehen. Das ist sinnlose Symptombekämpfung. Der Fokus darauf, die Bedingungen in Deutschland so schlecht zu gestalten für Asylsuchende, dass sie aufhören zu kommen, ist auf Dauer nicht tragfähig. Außerdem ist es menschenunwürdig. Wenn wir Fluchtursachenbekämpfung betreiben wollen, können wir auch schauen, dass die Geflüchteten zum Beispiel im Libanon, in Jordanien, auch in der Türkei gut unterkommen und dort nicht immer weiterziehen müssen. So zu tun, als würden alle immer gucken, wo man am meisten Sozialleistungen kriegt, ist in Studien nicht abbildbar.
Die von Dir benannten Länder nehmen die meisten Flüchtlinge auf. Wie lassen sich die Strukturen so aufbauen, dass Geflüchtete dort bleiben, anstatt weiter zu fliehen?
Das hängt im Prinzip am Geld. Man könnte sich auch die Probleme in den einzelnen Ländern anschauen und gucken, wie man darauf reagieren kann. Man könnte beispielsweise schauen, wie wir denjenigen helfen können, die auch zur Bekämpfung der weltweiten Ernährungskrise beitragen. Es gibt es zum Beispiel im Libanon große Flächen, wo man Kartoffeln oder etwa Getreide anbauen kann. Durch die Währungskrise können sich manche kein Saatgut leisten. In so einem Fall kann man schauen, wie man dort die Landwirtschaft mit Entwicklungsprojekten so fördern kann, dass die Leute dort Arbeit finden und sie anständig entlohnt werden. Wir haben je nach Region ganz unterschiedliche Phänomene.
Zum Beispiel?
Etwa in der Türkei: Das ist ein Land, in dem es auch darum geht, ob die Menschen eine Gesundheitsversorgung bekommen, wenn die Kinder zur Schule gehen. Das war der gute Teil des EU-Türkei-Deals: Man hat der türkischen Regierung Geld dafür gegeben, dass die Syrerinnen und Syrer eine Gesundheitsversicherung haben und die Kinder zur Schule gehen können. Wenn man weiter auf das zentrale Mittelmeer schaut, haben wir auch Menschen aus Ägypten und Tunesien. Sie sind die beiden größten Gruppen, die dieses Jahr über das zentrale Mittelmeer fliehen. Wie schafft man es, dass die Menschen nicht mehr gezwungen sind, sich auf ein Schlauchboot zu setzen, obwohl sie im Falle von Tunesien in aller Regel nicht politisch verfolgt sind? Da könnte man zum Beispiel ein Abkommen mit Tunesien machen in Form einer Visaliberalisierung. So könnten Tunesier visafrei für drei Monate in den Schengenraum reisen, um dort Urlaub zu machen und um sich dort aber auch einen Job zu suchen. Wenn man das Tunesien zubilligt, müsste die tunesische Regierung auch alle Menschen zurücknehmen, die ihre Visafrist überschritten haben. Wenn man in Europa keinen Aufenthaltsstatus bekommt, muss man wieder zurückgehen. Das würde auch dazu beitragen, dass die Menschen nicht auf einer lebensgefährlichen Flucht sterben. Das hätte aus europäischer, vielleicht auch konservativer europäischer Sicht den Vorteil, dass man endlich einen Hebel hätte, Tunesien davon zu überzeugen, dass sie ihre Staatsbürger auch zurücknehmen, wenn sie kein Bleiberecht haben. Migration aus Ländern Tunesien würde sich mit so einer Visaliberalisierung schnell normalisieren, es würde auch kaum jemand zurückgeführt werden, weil die Menschen freiwillig zurückgehen, wenn sie wissen, dass sie auch wiederkommen können.
Wäre da nicht Annalena Baerbock als Außenministerin gefragt, um solche bilateralen Abkommen auszuhandeln?
Wenn Migrationsabkommen funktionieren sollen, betrifft das verschiedene Ressorts. Da geht es um wirtschaftliche und entwicklungspolitische Zusammenarbeit und sicherlich auch um Außenpolitik. Im Koalitionsvertrag haben wir auch angelegt, dass es einen Sonderbevollmächtigten für Migration geben soll, der eine Schnittstellenfunktion hat. Der zwischen den verschiedenen Ressorts dafür sorgen kann, dass alles zusammengebunden wird. Jemand, der sich dafür verantwortlich fühlt, solche Verhandlungen zu führen. Was bisher immer passiert ist, ist, dass man zu den einzelnen Ländern gegangen ist und ihnen gesagt hat, dass sie ihre Leute zurücknehmen sollen, weil es unserer Rechtslage entspricht. Die haben das natürlich immer abgelehnt. Unter Angela Merkel ist man da 16 Jahre lang keinen Schritt vorangekommen. Das war nicht einmal eine Geisterfahrt, das war eine geistige Sackgasse.
Unter der Ampel-Koalition gibt es diesen Migrations-Sonderbevollmächtigten noch gar nicht, oder etwa doch?
Den gibt es noch nicht. Da kam leider Putin dazwischen, sodass die Projekte erst mal verschoben wurden. In der Tat muss die Ampel das angehen und auch dafür sorgen, dass dieser Sonderbevollmächtigte benannt wird. Damit man sich nicht wieder dem Irrglauben hingibt, dass es bei Migrationsabkommen nur um Rückführung geht.
Wie sieht das auf europäischer Ebene aus? Könnte es da nicht auch einen solchen Sonderbevollmächtigten geben? Oder gibt es dazu im Europäischen Parlament keinen Diskussionsbedarf?
Die Frage von Migration wird vor allem in den Nationalstaaten entschieden. Das Thema zu den Fragen, wie man mit den Geflüchteten umgeht und welche Regeln man auch als Gesetzgeber erlässt, wurde über Jahre im Rat immer blockiert. Wir haben inzwischen eine Situation, dass wir in verschiedenen EU-Ländern einen systematischen Rechtsbruch haben. Bis zu Tausende Menschen pro Woche werden ihrer grundlegenden Rechte beraubt. Menschen, die verprügelt werden, die teilweise nackt ausgezogen und schwer misshandelt werden. Was mit den Pushbacks an den Außengrenzen geschieht, ist eine zivilisatorische Bankrotterklärung für die Europäische Union. Manche versuchen auch sich an der Kampagne zu beteiligen, um diese Verbrechen, die zum Beispiel in Kroatien und Griechenland stattfinden, zu verdecken. Obwohl es inzwischen sehr umfangreiche Berichte darüber gibt. Wir haben das Problem, dass die politischen Mehrheiten in Europa, was die Migrationspolitik angeht, nicht nur nicht besonders progressiv sind, sondern, dass es momentan keine Mehrheit für die Menschenrechte in Europa gibt.
Wie könnte man das Bewusstsein für bessere Menschenrechte in Europa schärfen?
Das kann man zum einen über Wahlen ändern. Das kann man auch darüber ändern, indem man mit den Leuten redet. Dass man ihnen sagt, dass es kein Teil der Lösung sein kann, Menschen nachts auf Rettungsinseln in der Ägäis auszusetzen oder Notrufe von Menschen in Seenot zu ignorieren, wodurch sie ertrinken. Wenn man dieses Europa auch noch den nächsten Generationen präsentieren will, ohne sich schämen zu müssen, kann sich Europa so nicht zeigen.
Die deutsche Innenministerin Nancy Faeser hat unterdessen geäußert, illegale Migration stärker bekämpfen zu wollen, indem der Einsatz der EU-Grenzschutzagentur Frontex verstärkt werden soll. Widerspricht das nicht der deutschen Flüchtlingspolitik, die auf der anderen Seite beispielsweise mit ihrer Unterstützung der Seenotrettung einen humanitären Ansatz verfolgt?
In Frontex wird sehr viel hineinprojiziert. Man meint, es sei eine Agentur, die der Bekämpfung illegaler Migration dient und dass es durch sie weniger Asylanträge gäbe. Das ist falsch und lässt sich rechtsstaatlich nicht abbilden. Da fordert man im Prinzip, dass eine EU-Agentur Recht bricht. Frontex hat sich teilweise an Rechtsbrüchen beteiligt. Die Äußerungen der Bundesinnenministerin wirkten nicht besonders überlegt. Wenn sie noch einmal darüber nachdenkt, muss sie zu dem Schluss kommen, dass die Bekämpfung illegaler Einreisen an der deutschen Außengrenze nichts mit Asyl zu tun hat. Wenn die Leute an der deutschen Außengrenze sind und um Asyl bitten, müssen sie in einem rechtsstaatlichen Verfahren erst mal einen Asylantrag stellen dürfen und es gibt irgendwann ein Ergebnis. Man muss dafür sorgen, dass dort Kapazitäten sind, damit die Menschen schnell registriert werden können, sodass sie ein rechtsstaatliches Verfahren bekommen. Dass man guckt, wer vielleicht vulnerabel ist, wer medizinische Betreuung braucht, dass man dort alleinreisende Kinder als unbegleitete Minderjährige gut versorgt. Die Migrationspolitik beginnt nicht an der deutschen Außengrenze, sondern sie fängt dort an, wo sich Leute in Bewegung setzen, wo Leute fliehen müssen. In der Fluchtursachenbekämpfung kann man humanitär auch dafür sorgen, dass, wenn eine Krise entsteht, die Leute erst mal versorgt sind und nicht immer weiter fliehen müssen. Das ist der erste Schritt. Der zweite Schritt ist zu sehen, dass das eine europäische Aufgabe ist. Ich würde mir von der Bundesregierung noch ein bisschen mehr Blick für Europa wünschen. Denn ein Großteil der Leute, die gerade nach Deutschland kommen und Asylanträge dort stellen, haben entweder schon in anderen EU-Ländern Asylanträge gestellt oder sind weitergereist. Denn viele Staaten – wie etwa Griechenland und Kroatien – behandeln die Menschen so schlecht, dass man ihnen nicht das Gefühl gibt, dass sie irgendeine Perspektive dort haben können. Ich würde mir wünschen, dass es eine Allianz gibt, die einfordert, dass andere Staaten das EU-Recht einhalten. Die Balkanroute gibt es nur, weil Staaten auf dem Weg der Balkanroute die Menschen nicht gut genug behandeln, dass sie dort bleiben können. Es gibt keine Kultur, keine Hegemonie des Flüchtlingsschutzes in Europa. Deutschland muss das nicht alleine auffangen, sondern sollte sich dafür einsetzen, dass die Europäische Union so funktioniert, dass man auf der einen Seite Pflichten und auf der anderen Seite auch Rechte hat.
Gibt es denn auch positive Signale in der Zusammenarbeit auf EU-Ebene hinsichtlich Migrations- und Flüchtlingsthemen?
Es gibt zumindest eine offenere Diskussion zu dem Vorschlag, ein neues europäisches Asylsystem zu schaffen oder das bestehende zu reformieren. Die Ratspräsidentschaft hat sich sehr eingesetzt. Ob das am Ende alle Probleme lösen wird, weiß ich nicht. Auf jeden Fall ist es ein positives Signal, dass die allermeisten EU-Mitgliedsstaaten das Ziel haben, das besser zu regeln. Ich glaube auch, dass es zunehmend Besorgnis darüber gibt, wohin all diese Menschenrechtsverletzungen führen sollen. Ich hoffe, dass wir spätestens im nächsten Jahr diese dunkle Zeit hinter uns lassen, in der es völlig normal ist, an den europäischen Außengrenzen Menschen, die keine Straftaten begangen haben, aufs Übelste zu verprügeln und nackt in andere Länder zu schicken. Migration ist die Triebfeder des Fortschritts auf der ganzen Welt. Es hat auch Europa stark gemacht, dass wir offene Grenzen haben. Das ist eine der großen Errungenschaften unserer Geschichte.