Der VfL Bochum scheint das gleiche Schicksal zu erleiden wie schon einige furiose Aufsteiger vor ihm. In der ersten Saison läuft alles nach Plan, in der zweiten bricht alles zusammen. Doch ist die zweite Spielzeit wirklich die schwerste?
Selbst 1973 sinnierte Obmann Reimer Fischer in der Hamburger Landesliga: „Das zweite Jahr ist immer das schwerste." Bereits damals war es eine „alte Fußballweisheit" über Aufsteiger, auch wenn nicht ganz klar ist, wann und von wem sie in Umlauf gebracht wurde. Gebraucht wurde sie in der Sportgeschichte dennoch Hunderte Male. Auch HSV-Idol Uwe Seeler gab 1996 zu Protokoll: „Die zweite Saison wird immer die schwerste, das weiß jeder." Ob es nun die zweite Saison ist, oder das zweite Jahr, manchmal auch „das verflixte zweite Jahr" – diese scheinbare Erkenntnis hat sich festgesetzt in der deutschen Sportlandschaft. In der laufenden Bundesligasaison gibt es wieder Sportler, die den Spruch zu hören bekommen. Konkret: die Fußballer des VfL Bochum, derzeit am untersten Tabellenende zu finden, als Tabellenletzter. Nachdem der VfL im vergangenen Jahr souverän die Klasse gehalten hat, heißt es nun wieder: „Das zweite Jahr ist das schwerste." Für die These gibt es logisch klingende Erklärungen: Die Euphorie des Aufstiegs ist im zweiten Jahr verflogen, ebenso das Gefühl, nichts zu verlieren zu haben. Erwartungshaltung und Druck steigen, die Gegner unterschätzen einen nicht mehr.
Keine Frage, es gibt eine ganze Reihe von Negativbeispielen. Doch das Missverhältnis zwischen erster und zweiter Saison ist eigentlich gar nicht so groß: Von allen Aufsteigern, die im ersten Jahr nicht abgestiegen sind, erreichten 50 Prozent im zweiten Jahr den Klassenerhalt, zehn Prozent gar die gleiche Position. Besonders gebeutelte Clubs des „verflixten zweiten Jahres" gibt es auch nicht: Außer Karlsruhe, Uerdingen und Bielefeld traf es kein Team öfter als einmal. Und in der jüngeren Vergangenheit kam die Weisheit fast gar nicht mehr zum Tragen.
Mittendrin in dieser Spirale, die statistisch gar nicht zu belegen ist, befindet sich derzeit der VfL Bochum. Neben dem eher bescheidenen Abschneiden auf dem Platz, hat der VfL auch mit anderen Nebenkriegsschauplätzen zu kämpfen. Sportdirektor Sebastian Schindzielorz, der im Februar 2018 auf den am Aufstiegstraum gescheiterten Christian Hochstätter gefolgt war, hat am Wochenende sein letztes Spiel als leitender Angestellter der Bochumer begleitet. Auf eigenen Wunsch. Ahnte er schon im Mai, was auf den Verein zukommt? Damit endeten diesen September viereinhalb Jahre, in denen der VfL sich von einem grauen Zweitligaverein in einen charakterstarken Bundesligaclub verändert hat. „Wir haben stets betont, wie sehr wir es bedauern, dass sich Sebastian Schindzielorz entschlossen hat, den VfL zu verlassen", sagt der Vorstandsvorsitzende Hans-Peter Villis. Schindzielorz, dessen Nachfolger mit dem ehemaligen Profi Patrick Fabian bereits gefunden ist, habe „wesentlichen Anteil daran, den VfL Bochum wieder dort hingebracht zu haben, wo er unserer Meinung nach hingehört: in die Bundesliga".
Die Bochumer Atmosphäre beeindruckte Gegner
Diese Meinung teilt spätestens nach dem schlimmen 0:7 gegen den FC Bayern aber nicht mehr jeder. Der VfL steckt am Tabellenende fest, ist bei den Wettanbietern der Favorit auf den Abstieg – dafür gibt es Gründe, die weit über die Leistungen im bisherigen Saisonverlauf hinausgehen. Vieles hat sich verändert im Vergleich zum Vorjahr, als die Mannschaft ebenfalls früh in der Saison 0:7 gegen die Bayern verlor. Allerdings war das in München, und Simon Zoller sagte danach nicht: „So zerstört wurde ich noch nie." Nun waren die Bochumer nur knapp an der höchsten Heimniederlage der Bundesligageschichte vorbeigeschrammt, die Tasmania Berlin 1966 bei einem 0:9 gegen den MSV Duisburg erlitten hat. „Das war ein Spiel, das nicht unserer DNA entspricht", sagte Trainer Thomas Reis mit einigen Tagen Abstand. Völlig offen ist, ob der VfL dauerhaft zurückfindet in seine Lieblingsrolle als extrem widerstandsfähiger Außenseiter, der jeden Favoriten konsequent für kleine Nachlässigkeiten bestraft – bis jetzt noch nicht. In der zurückliegenden Saison wirkte noch die Magie der Bundesligarückkehr; die Konkurrenz und die Öffentlichkeit staunten über das eigenwillige Wesen dieses Revierclubs. Die Gästespieler, von denen viele noch nie im zauberhaft altmodischen Ruhrstadion aufgelaufen waren, ließen sich beeindrucken von der dichten Atmosphäre an der Castroper Straße. Verstärkt wurde dieser Effekt von einer sehr besonderen Eigenheit dieses Stadions: Es funktionierte unter den Einschränkungen der Pandemie auch mit reduzierter Zuschauerzahl erheblich besser als die meisten anderen Arenen. Hinzu kam ein unbelastetes Arbeitsklima im ganzen Verein. Spieler und auch andere Angestellte betrachteten den Aufstieg mit dem VfL als einmalige Karrierechance.
In diesem Sommer hat nun der übliche Prozess des Ausblutens begonnen, von dem weitaus weniger als erwartet, jedoch genügend Vereine schon erfasst wurden. Mit Armel Bella-Kotchap (Southampton) und Maxim Leitsch (Mainz 05) gingen die beiden wichtigsten Innenverteidiger. Der für die Spielweise des VfL sehr wichtige Zentrumsstürmer Sebastian Polter spielt jetzt für Schalke, Miloš Pantović für Union Berlin und Sportdirektor Schindzielorz hat offenbar auch Karrierepläne, die auf dem nächsthöheren Niveau realisiert werden sollen.
Nachfolger Fabian rasierte am Montag dann an seinem ersten Arbeitstag gleich mal den Trainer. Manche Beobachter hatten ohnehin den Eindruck, dass auch Reis mit einem Abschied kokettierte. Er soll im vergangenen Sommer mit einem Wechsel zu Schalke 04 geliebäugelt haben. Ein Angebot des VfL Bochum zur vorzeitigen Verlängerung schlug er jedoch aus.
Das Zögern schien nachvollziehbar, denn seine Arbeit in Bochum war bis zum Sommer derart überzeugend, dass er nach seiner Freistellung fest mit interessanten Angeboten von größeren Vereinen rechnen kann. Für den VfL sind all diese Entwicklungen besorgniserregend, wobei ein Befund vom Rasen am schwersten wiegt: Der Fußball der Mannschaft funktioniert nicht mehr richtig. „Wir haben über die letzten zwei, zweieinhalb Jahre eine Spielweise, einen Mut an den Tag gelegt, der uns dahin gebracht hat, wo wir sind", sagte Reis nach seinem letzten Spiel.
Riemann musste sich entschuldigen
Nicht einmal mehr Manuel Riemann, der exzellente Torhüter der vergangenen Saison, wirkt stabil, „Teile der Mannschaft wollen das spielen, was uns die letzten Jahre ausgezeichnet hat", sagt Zoller, „bei manchen ist das noch nicht so weit, das sieht man auf dem Platz." Dass Torhüter Riemann nicht nur nicht stabil wirkt, sondern die Nerven scheinbar völlig blank liegen, zeigt die Geschichte aus der vergangenen Woche. Im Training beleidigte er einen Mitspieler auf übelste Weise. So übel, dass er sich danach auf seinen sozialen Netzwerken dafür entschuldigte. „Ich habe heute beim Training ein Wort benutzt, das benutzt man nicht. Leute fühlen sich dadurch diskriminiert, wenn man dieses Wort benutzt", sagte Riemann in einem später auf seinem Instagram-Konto veröffentlichten Video. „Ich möchte es auch nicht wiederholen. Ich wollte mich einfach nur dafür entschuldigen." Der 33-Jährige, der sehr impulsiv und auch im Training voll bei der Sache ist, ergänzte: „Ich bin in dem Moment meiner Vorbildfunktion nicht gerecht geworden und habe auch meinen Charakter, den ich eigentlich habe, nämlich Leuten, die Hilfe brauchen, zu helfen, nicht widergespiegelt."
Die Entgleisung habe den Hintergrund, dass er nicht gern verliere. Die Frage, ob beim VfL bereits die Nerven blank liegen oder einfach nur Leben im Team ist, beantwortete Riemann gleich selbst und erklärte: „In dem Moment haben wir verloren, ich war sauer. Es zeigt einfach nur, dass die Mannschaft lebt, und dass wir nicht gerne verlieren." Seinen Fehler räumte er dennoch ein: „Da muss man sich aber anders verbal äußern und nicht so, wie ich das heute getan habe. In diesem Sinne wollte ich mich bei allen entschuldigen und niemanden diskriminieren. Ich hoffe, ihr nehmt die Entschuldigung an."
Das dürfte vor allem in Richtung seines Teamkollegen Gerrit Holtmann gerichtet sein. Laut „WAZ" war nämlich Holtmann Ziel von Riemanns Frust im Training. Das Training wurde demnach auch auf Anordnung von Trainer Thomas Reis ohne die beiden Spieler fortgesetzt. Klar ist: Ob es jetzt das zweite Jahr oder das erste wäre – diese Probleme würden jedem Verein schaden. Auf den neuen Trainer wartet jedenfalls viel Arbeit.