Die Stahlbranche gilt als Rückgrat der deutschen Industrie, gleichzeitig steht sie durch die Klimaziele in der EU und Deutschland sowie den aktuellen Gasmangel vor großen Herausforderungen. Wie kann es weitergehen?
In Deutschland gibt es ungefähr sechs Millionen Arbeitsplätze in der Industrie. Davon sind zwei Drittel, also vier Millionen, in der Stahlindustrie zu finden. Rund 40 Millionen Tonnen Stahl wurden am Wirtschaftsstandort Deutschland beispielsweise im Jahr 2021 hergestellt. Platz eins innerhalb der Europäischen Union, die zusammengenommen circa 152 Millionen Tonnen Stahl produziert hat. Das sind Zahlen, die dabei helfen, sich zu verdeutlichen, welch enorme Bedeutung die Branche für die deutsche Wirtschaft hat.
Allerdings ist die erfolgreiche Stahlindustrie kein Selbstläufer mehr. Die internationale Konkurrenz ist hoch und die Bestrebungen zur Klimaneutralität bereiten den Akteuren einiges an Kopfzerbrechen. Herausforderungen, die auch von den Betriebsräten und der Gewerkschaft gesehen werden, geht es doch mittel- und langfristig um die Sicherheit von Arbeitsplätzen. So hat sich nun die Transformationswerkstatt Saar der IG Metall in Zusammenarbeit mit dem Info-Institut in der „Stahlstudie 2022" mit Handlungsempfehlungen an die Industrie-Sparte im Saarland gewandt. Die Feststellungen sind jedoch auf das gesamte Bundesgebiet anwendbar.
CO2-neutraler Stahl ist das Ziel
Wenn es, wie vonseiten der Bundesregierung geplant, bis 2045 nur noch grünen Stahl geben soll, also ein Endprodukt, für dessen Herstellung keine Treibhausgase wie Kohlenstoffdioxid freigesetzt wurden, müssen die erneuerbaren Energien in dramatischem Ausmaß ausgebaut werden. So prognostiziert Julian Reinert, der Autor der Studie, bis zu dem Stichtermin einen Anstieg des Bruttostromverbrauchs gemessen am Wert von 2018 von 69 Prozent auf rund 1.000 Terawattstunden. Zum Vergleich: Im vergangenen Jahr hatte Deutschland einen Verbrauch von 560 Terawattstunden. Schaut man dabei etwas breiter auf aktuelle Trends, wie den Boom von smarten Geräten und E-Autos ist durchaus vorstellbar, dass eine solche Berechnung und die damit einhergehende Belastung für die Stromerzeugung und die Netzinfrastruktur konservativ bemessen sein könnte. Schon Ende 2021 musste das Bundeswirtschaftsministerium die eigenen Prognosen zum Strombedarf nach oben korrigieren, da moderne Trends wie die Nachfrage nach Wärmepumpen oder die Produktion von Wasserstoff, die auch für eine grüne Stahlindustrie eine entscheidende Rolle spielt, deutlich schneller mehr Energie brauchen als bisher geplant. Gerade beim Thema Wasserstoff könnte das dazu führen, dass Deutschland hier längere Zeit als Importeur auftritt, vermutet Reinert: „Da geht es selbstverständlich direkt wieder um Herausforderungen, die es zu gestalten gilt. Einerseits den Aufbau eigener Elektrolyseur-Kapazitäten für Wasserstoff, andererseits den Anschluss der späteren Verbraucher an ein europäisches Wasserstoff-Netz, um den Energieträger überhaupt in einer größeren Menge importieren zu können."
Eine andere Herausforderung, bei der ebenfalls die Politik gefragt ist, sind Ausgleichsmechanismen für den globalen Stahlhandel. Kostet die Herstellung von einer Tonne Stahl über die Hochofenroute bisher 373 Euro, prognostizieren Experten bis zu 646 Euro pro Tonne Stahl bei Einsatz der wasserstoffbasierten Direktreduktion. Kosten, die vielleicht innerhalb von einem geschlossenen System funktionieren könnten, nicht jedoch am Weltmarkt, wo der Großteil des Stahls dann voraussichtlich immer noch über den wesentlich günstigeren Weg erzeugt wird. Dadurch entstehen zwei Risiken: eine klimafreundliche, aber aussterbende Stahlindustrie in Deutschland und Europa, sowie „Carbon Leakage", also dass trotz Klimaschutzbemühungen in der EU die gleichen Mengen an Treibhausgasen anfallen, weil wir Produkte aus dem weniger regulierten Ausland wie China oder Indien beziehen. Hier gilt es laut Reinert Gestaltungsmöglichkeiten auf der europäischen Ebene zu finden wie beispielsweise die Einführung eines CO2-Grenzausgleichssystems (CBAM), um den fairen Wettbewerb zu sichern. Allerdings sieht Reinert auch die Chance, dass Produkte aus nachhaltigem Stahl wie ein CO2-freies Auto, Kunden ansprechen könnten, die besonders wegen dieser Eigenschaft bereit wären, höhere Kosten dafür zu tragen.
Produkte müssen konkurenzfähig bleiben
Gute Nachrichten gibt es für die Beschäftigten: Während die Umstellung auf Elektrofahrzeuge in der Automobilindustrie zu einem größeren Stellenabbau führen wird, ist die Umstellung auf CO2-freien Stahl eher mit einem temporären Mehrbedarf an Mitarbeitern verbunden, da verschiedene Systeme gleichzeitig nebeneinander laufen werden. Große Teile der Fertigung sind von der Umstellung außerdem nicht betroffen und auch am Hochofen-Ersatz braucht es weiter Mitarbeiter, auch wenn sich deren Arbeitsabläufe in den kommenden Jahren ändern. Dabei kann und wird schon jetzt im Saarland darauf geachtet, das zur Verfügung stehende Personal ideal auf die sich verändernden Rahmenbedingungen einzustellen. Während ältere Mitarbeiter noch bis zur Rente wie gewohnt weiterarbeiten können, werden die jungen von vornherein mit den künftigen Anforderungen vor Augen ausgebildet und die dazwischen weiterqualifiziert. Die gängige lange Anlagennutzung von 14 Jahren und mehr je Hochofen, die bei richtiger Planung Stück für Stück durch Elektrolichtbogenöfen und wasserstoffbasierte Direktreduktionsanlagen ausgetauscht werden können, kommen hierbei den Beschäftigten in den Transformationen zugute. „Es wird natürlich Situationen geben, in denen Stahlerzeuger auf einen Schlag eine größere Anzahl von Mitarbeitern qualifizieren müssen, aber insgesamt wird der Prozess eher einer Evolution über mehrere Jahre entsprechen", so Julian Reinert.
Trotz der immensen Herausforderung sehen sowohl das Info-Institut und die Transformationswerkstatt Saar in puncto Stahl optimistisch in die Zukunft. Die Akteure aus Politik, Industrie und Gewerkschaft befinden sich in einem konstruktiven Austausch, der einen Strukturwandel in dieser Größenordnung zu einem gelingenden Projekt verwandeln könnte. Denn nur, wenn die Transformation im Saarland, in Deutschland und in Europa erfolgreich ist, kann sie auch eine Strahlkraft auf andere Nationen haben, die zurzeit noch wenig Ambitionen haben, die Industrie für eine klimabewusste Zukunft umzustellen.