Jennifer Lawrence ist reifer geworden. Sie ist an einem Punkt in ihrem Leben, an dem sie neue Wege gehen will. Das hat vor allem damit zu tun, dass sie geheiratet hat und seit knapp einem Jahr Mutter ist. Diese Veränderungen sind auch an ihren neuen Filmen abzulesen.
Jennifer Lawrence wusste eigentlich schon immer genau, was sie will. Und was nicht. Nachdem sie mit 14 bei einem Familienausflug in New York von einer Model- und Filmagentur entdeckt wurde, stellte sie sofort klar: „Ich will nicht Model werden, sondern Schauspielerin! Zuerst haben mich alle ausgelacht, aber dann haben sie es doch mit mir versucht.“ Wenige Monate später überredete sie ihre Eltern dazu, von ihrem Heimatort Louisville in Kentucky aus wieder mit ihr nach New York zu fahren, um dort einen Agenten für sich zu finden. Dem teilte sie unverblümt mit, dass sie nicht etwa neues Material für die Disney-Film-und-TV-Maschinerie wäre, sondern gern Independent-Filme machen würde. Nach ersten Gastauftritten in TV-Filmen und Serien wie „Monk“ ging sie mit 17 nach Hollywood. Mit 18 drehte sie ihren ersten Kinofilm „Garden Party“ (2008). So etwas nennt man Durchsetzungsvermögen.
„Ohne den eisernen Willen, es zu schaffen, und den unerschütterlichen Glauben an einen selbst braucht man sich erst gar nicht nach Los Angeles aufzumachen. Das Filmbusiness ist ultrahart. Paranoia auf den Fluren beim Vorsprechen. Intrigen hinter den Kulissen. Aber was sollte ich machen? Ich hatte doch gar keine andere Wahl! Ich wollte eben unbedingt Schauspielerin werden.“ Neben den üblichen Schwärmereien, die man als Teenager eben für Filmstars und Filme so hat, lag für Jennifer der eigentliche Grund, es mit der Schauspielerei zu versuchen, wohl etwas tiefer. Als junges Mädchen war sie hyperaktiv und von Ängsten und Sozialphobien geplagt. Sie hielt sich im Vergleich zu ihren gleichaltrigen Freunden und Bekannten für unterlegen und hatte das Gefühl, nie wirklich dazuzugehören. Das änderte sich schlagartig, als sie begann, noch während ihrer Schulzeit Theater zu spielen. Auf der Bühne fühlte sie sich erfüllt und frei.
Hatte keine einzige Stunde Schauspiel-Unterricht
Unermüdlich versuchte sie in Los Angeles ihre Karriere voranzutreiben. Da kam ihr ein glücklicher Zufall zur Hilfe – obwohl es zuerst gar nicht danach aussah. Sie wurde nämlich beim Vorsprechen für die Rolle der Bella Swan für die „Twilight“-Saga abgelehnt. Diese heiß begehrte Rolle ging bekanntlich an Kristen Stewart. Aber jetzt war Lawrence bereit, die Hauptrolle in „Winter’s Bone“ (2010) zu übernehmen. Für ihr einfühlsames Porträt der 17-jährigen Ree Dolly wurde sie – mit gerade einmal 20 Jahren – für den Golden Globe und den Oscar nominiert. „Dieser Film war für mich der innere Durchbruch als Schauspielerin.“ Und mit breitem Grinsen meint sie: „Nicht schlecht für jemanden, der keine einzige Stunde Schauspielunterricht hatte! Aber das ist schon okay, denn ich spiele ja sowieso vor allem aus dem Bauch heraus.“
Dann ging plötzlich alles sehr schnell. Kaum eine Hollywood-Karriere hat innerhalb weniger Monate so viel Fahrt aufgenommen wie die von Jennifer Lawrence. Anfang 2011 wurde sie für „X-Men: Erste Entscheidung“ von Regisseur Bryan Singer höchstpersönlich zur neuen Mystique erkoren. Und auch in diesem millionenschweren Blockbuster-Movie machte sie ihre Sache bravourös und spielte die meist blaugefärbte Mutantin in ihrer erwachenden Sexualität mit einer verführerischen Mischung aus Lust und Laster.
Obwohl ihr Herz eigentlich immer noch für den Independent-Film schlug, nutzte sie die Gunst der Stunde (und die Millionen-Gagen) und spielte in einem weiteren Movie-Franchise mit. Und zwar in der Verfilmung der Jugendbuch-Bestseller-Reihe „Die Tribute von Panem“ die Action-Heldin Katniss Everdeen. Mit dieser ikonischen Rolle, die sie in insgesamt vier „Hunger Games“-Filmen (2012 bis 2015) verkörperte, etablierte sie sich vollends in Hollywood und wurde, ganz nebenbei, auch zum Vorbild für viele – vor allem weibliche – Teenager. In den darauffolgenden Jahren war sie die höchstbezahlte Schauspielerin im US-Filmbusiness. Bis heute haben ihre Filme über sechs Milliarden Dollar eingespielt.
„Es war ein großes Glück, dass ich durch den Erfolg, den meine Filme an der Kinokasse hatten, bald die Freiheit bekam, mir meine Projekte selbst auszusuchen“, meint Jennifer Lawrence und fährt lachend fort: „Das hat mich allerdings nicht davor bewahrt, auch in einigen Flops mitzuspielen. Mein Problem ist nämlich, dass ich eigentlich bis heute nicht recht weiß, warum ich mich zu einem Filmprojekt hingezogen fühle. Ich weiß immer erst ein paar Jahre später, ob ich richtig lag oder eben nicht.“ Absolut richtig lag sie jedenfalls mit dem romantischen Drama „Silver Linings“ (2012), in dem sie an der Seite von Bradley Cooper die emotional ziemlich verspulte Tiffany spielte. Eine Rolle, für die sie zu Recht den Oscar als „Beste Schauspielerin“ bekam. Zu dieser Zeit freundete sie sich auch mit dem amerikanischen Filmemacher David O. Russell an, mit dem sie noch zwei weitere hochkarätige Filme drehte: „American Hustle“ (2013) und „Joy“ (2015). „Die Zusammenarbeit mit David war für mich enorm wichtig, weil ich da viele meiner Ängste und Unsicherheiten, die ich als Schauspielerin hatte, aufarbeiten konnte. Und mich endlich freispielte.“
Jennifer Lawrence ist ein Glücksfall für Hollywood. Sie ist nicht nur hochtalentiert, sondern auch eigensinnig, frech. Eine Mischung aus der Frau von nebenan und einem glamourösen Filmstar. „Und in all den Jahren habe ich mich – trotz Ruhm und Reichtum – nicht verbiegen lassen“, triumphiert sie. „Ich habe nämlich einen sehr fein eingestellten Bullshit-Detektor, der immer dann ausschlägt, wenn mir die Leute etwas vormachen. Ich kann Ja-Sager absolut nicht leiden. Gott sei Dank habe ich genug Freunde in meinem Leben, die es ehrlich mit mir meinen. Und natürlich meine Familie und meinen Mann.“
Seit einigen Jahren ist es in Hollywood gang und gäbe, dass junge Schauspieler, die bei ihrer ersten Berührung mit der Presse noch sehr frisch und authentisch erscheinen, von ihren Publizisten schnell auf Stromlinienförmigkeit getrimmt werden, damit sie bei Interviews nur nicht ins Fettnäpfchen treten. Bei Jennifer Lawrence hat diese Nivellierung zum Glück nicht gefruchtet. Sie ist immer noch spontan und nimmt bei Interviews kein Blatt vor den Mund. Eine Begegnung mit diesem Superstar ist also noch immer sehr erfrischend unkompliziert. Keine Allüren, keine gekünstelte Distanz – stattdessen eine lebhafte und offenherzige junge Frau, die viel Wert darauf legt, dass sie „ganz normal geblieben“ ist.
„Mir ging alles viel zu schnell“
Schnell hat sie ihre mörderisch hohen Sergio-Rossi-Pumps ausgezogen, die Beine untergeschlagen und ihr blaues Minikleid über den Knien glattgestrichen. „Bis vor fünf Minuten hatte ich noch keine Ahnung, was das für Schuhe sind“, meint sie achselzuckend, „man gibt mir vor Filmpremieren oder anderen Events immer jede Menge Klamotten und Schuhe zur Auswahl. Und für die Oscar-Nacht erst! Aber wie inzwischen wohl die ganze Welt weiß, stolpere ich ja gerne mal über meinen Kleidersaum … Wie auf dem Weg zur Bühne, als ich mir für ‚Silver Linings’ den Oscar abholte. Oder als ich am roten Teppich beim Aussteigen aus der Stretch-Limo fast auf den Hintern fiel. Ich bin manchmal ein ziemlicher Trampel“, kichert sie vergnügt und greift in die Schale voller Erdbeeren, die vor ihr auf dem Tisch steht. Und lässt eine dicke Erdbeere genussvoll schmatzend im Mund verschwinden.
In ihren Twens war sie auf Partys und Events ein gern und oft gesehener Gast und hatte auch die ein oder andere Liebesaffäre; vor ein paar Jahren zog sie sich etwas aus dem Filmbusiness und dem Fokus der Öffentlichkeit zurück. „Der Grund für diese Auszeit war, dass mir in den letzten Jahren alles viel zu schnell ging. Ich musste mich erst einmal sammeln, wieder zu mir, zu meiner Mitte finden. Außerdem habe ich gemerkt, wie ich vor allem in beruflicher Hinsicht meinen inneren Kompass verloren hatte. Und das war für mich als Schauspielerin sehr gefährlich. Denn eigentlich konnte ich mich ja immer auf meinen Instinkt verlassen. Doch plötzlich war er verschwunden. Seit einiger Zeit bin ich nun dabei, mir diese Sensibilität und Empathie wieder zurückzuholen.“
Der Rückzug ins Privatleben war eine glückliche Entscheidung. Kurz vor Beginn der Pandemie verliebte sie sich in den Galerie-Besitzer Cooke Maroney. Im Oktober 2019 fand die Hochzeit auf Rhode Island statt, im Februar 2022 kam ihr gemeinsamer Sohn Cy auf die Welt. Die junge Familie lebt abwechselnd in New York City und Beverly Hills. Und obwohl sie ihr Privatleben unter Verschluss hält, ließ sie unlängst durchsickern, dass diese neue Lebenssituation sie sehr verändert hat: „Ich habe jetzt viele neue Prioritäten in meinem Leben. Ich habe einen wunderbaren Mann und bin die glücklichste Mutter, die man sich vorstellen kann. Es gibt nichts Schöneres für mich, als Tag und Nacht für meinen Sohn da zu sein“, meint die 32-Jährige mit einem strahlenden Lächeln auf den Lippen.
Neuorientierung hin zum Streaming
Dass Jennifer Lawrence reifer, erwachsener geworden ist, sieht man nicht zuletzt an der Wahl ihrer Filme. Es ist sicher kein Zufall, dass sie die beiden Movies aus der Zeit ihrer persönlichen Neuorientierung – die apokalyptische Polit-Satire „Don’t Look Up“ und das Psycho-Drama „Causeway“ – nicht für Hollywood, sondern für Streaming-Plattformen gemacht hat. „Causeway“ (siehe Filmtipp Seite 82) ist auch der erste Film, den sie mit ihrer neugegründeten Firma Excellent Cadaver produzierte. Der Name ist eine Anspielung auf den bei der sizilianischen Mafia gebräuchlichen Begriff für die Ermordung einer wichtigen Person. Das Produzieren von Filmen und das Entwickeln von Drehbüchern wird künftig ein Schwerpunkt sein, aber sie wird weiterhin vor der Kamera stehen: Der nächste Film wird eine Komödie mit dem Titel „No Hard Feelings“ und der darauf folgende ein Biopic über die legendäre Hollywood-Casting-Agentin Sue Mengers, unter der Regie von Paolo Sorrentino. „Darauf freue ich mich schon riesig. Denn ich liebe die Schauspielerei wirklich sehr!“