Er köpfte schon mal ein Tor, stoppte Vermummte, die auf den Platz laufen wollten und provozierte gern die gegnerischen Fans. Bundesweit ist vielen Rafal Gikiewicz aber erst aufgefallen, als er einen Kopfball von Manuel Neuer spektakulär hielt.
Im Fußball und in der Bundesliga sehnen sich viele immer nach „echten Typen“. Nun müsste man zunächst einmal klären, was man unter einem „echten Typen“ versteht und würde viele verschiedene Definitionen bekommen. Für die Behauptung, dass Rafal Gikiewicz ein „echter Typ“ ist, dürfte es aber dabei eine ziemlich große Schnittmenge geben. Der polnische Torhüter des FC Augsburg ist einer, an dem man sich reiben kann. Der polarisiert, gegnerische Fans und Spieler gegen sich aufbringt, seine Mitspieler mal einordnet, mal mitreißt, der in Interviews und offenbar auch in Gesprächen mit Vereinsverantwortlichen nie ein Blatt vor den Mund nimmt. Und er bringt meistens Leistung. Vor allem dann, wenn es besonders drauf ankommt. Gikiewicz selbst nennt sich einen „positiv Verrückten“.
Als ihm im Spiel beim FC Schalke 04 deren Torjäger Simon Terodde wohl etwas zu Unrecht an die Wäsche wollte – Gikiewicz hatte nach Schlusspfiff vor der Schalker Fankurve einfach nur aufreizend langsam seine Trinkflasche und sein Handtuch aus dem Tor geholt – stellte Mitspieler André Hahn lachend fest: „Der Rafa ist ja nicht immer ganz unschuldig.“ Das werden sie vor allem in Bremen bestätigen, denn da brachte der 34-Jährige zwei Wochen vorher die gegnerischen Fans so richtig gegen sich auf. In der siebten Minute der Nachspielzeit gab es beim Stande von 1:0 für Augsburg Elfmeter für Bremen. Das sind Situationen, in den Gikiewicz so richtig hochdreht – in vielerlei Hinsicht. Erst hielt er den Elfmeter von Marvin Duksch, dann signalisierte er den Fans in der Werder-Kurve mit dem Finger vor den Lippen, dass sie gefälligst still zu sein haben. Gikiewicz sah Gelb, einige Bremer Fans sahen Rot und drangen wutentbrannt bis zum Spielfeldrand vor. Der Torhüter rechtfertigte sich damit, dass er die gesamte Halbzeit durchgängig beleidigt worden sei. „Die haben keinen Respekt. Wir sind nur Spieler und du kannst nicht meine Familie oder mich persönlich beleidigen“, sagte er.
Sein Selbstvertrauen „ist ganz oben“
Und zwischen diesen beiden emotionalen Auswärtsspielen hatte Gikiewicz seinen ganz großen Auftritt. Der ihn auch bei denen bekannt machten, denen der exzentrische Torwart in sechs Jahren in Deutschland bei Braunschweig, Freiburg, Union Berlin und eben Augsburg noch nicht besonders aufgefallen war. Beim furiosen 1:0 der Schwaben gegen den FC Bayern München rettete er den Sieg mit einer unglaublichen Glanzparade gegen Welttorhüter Manuel Neuer, der beim Eckball mit vorgegangen war und den Ball geköpft hatte. „Er hat mich gefragt, warum ich den gehalten habe“, sagte Gikiewicz nach einem kurzen Plausch mit Neuer. Auf die Frage, ob dies besonders gewesen wäre gegen den Kollegen, sagte er: „Jeder gehaltene Ball von Bayern ist ein besonderes Gefühl.“ Und auf die Frage, ob diese Aktion gut fürs Selbstbewusstsein sei: „Über mein Selbstvertrauen brauche ich nicht zu reden. Das ist ganz oben.“ Was ein früheres Zitat von ihm belegt. „Es gibt nicht mehr so viele Charaktere wie mich, die noch eine echte Fußballermentalität haben“, sagte er vor rund drei Jahren. Neuer war von dem Kollegen an diesem Tag so beeindruckt, dass er in die Kabine ging und für ihn noch ein zweites Trikot organisierte, obwohl er sein Spiel-Shirt schon mit dem Augsburger Stürmer Florian Niederlechner getauscht hatte. Der habe eben den kürzeren Weg gehabt und sei schneller gewesen, sagte Gikiewicz.
Wer sich an diesem Tage begann, für Rafa Gikiewicz zu interessieren, der stellte fest, dass es schon viele Geschichten gab über den Polen. Und dass ihm einmal auch genau das gelungen war, was er Neuer mit seiner Glanztat verweigerte hatte. Am 7. Oktober 2018 war das gewesen, damals noch im Trikot von Union Berlin beim Spiel gegen den 1. FC Heidenheim. Schon in der regulären Spielzeit wollte der Torhüter nach vorne rennen, doch Trainer Urs Fischer hielt ihn mit energischem Blickkontakt ab. Bei einem Eckball in der Nachspielzeit ließ sich Gikiewicz nicht mehr stoppen, lief nach vorne und traf per Kopfball zum 1:1-Endstand. Ob der Trainer denn nicht wieder versucht habe, ihn abzuhalten, wurde er danach gefragt. „Beim ersten Mal sagte er zu mir: Nein, du musst an der Mittellinie bleiben“, erzählte Gikiewicz: „Dann habe ich nicht mehr gefragt und bin einfach nach vorne gerannt.“ Fischer konnte nur noch feststellen: „Es hat sich ausgezahlt.“
Es war ein besonderer Moment, der durch eine besondere Situation als Zusatz-Motivation entstanden war. Denn Gikiewicz’ gesamte Familie war an diesem Tag im Stadion. Darunter seine Eltern, die nach Angaben des Sohnes beide an diesem Tag Geburtstag hatten. Es war bis heute der erste und einzige Treffer von Gikiewicz im Profi-Fußball. Und das, obwohl er das Toreschießen durchaus gelernt hat. „Bis ich 13 Jahre alt war, bin ich Stürmer gewesen“, erzählte er: „Dann wurde bei einem Turnier ein Torwart gesucht, und ich wurde zum besten Torwart des Turniers gewählt.“ Rafal Gikiewicz blieb im Tor und machte die deutlich eindrucksvollere Karriere als Zwillingsbruder Lukasz, der es als Stürmer aber immerhin auch zum Profi in neun verschiedenen Ländern wie Saudi-Arabien, Thailand, Bahrain, Jordanien oder Indien brachte.
Der Traum: nur ein Länderspiel
Für große Aufmerksamkeit sorgte Rafal Gikiewicz dann wieder ein Jahr später im November 2019 beim ersten Bundesliga-Derby zwischen Union und der Hertha. Vermummte Fans hatten versucht, den Rasen zu stürmen und der Torhüter hatte sich einfach vor ihnen aufgebaut und sie aufgehalten. Die Kollegen Keven Schlotterbeck und Christopher Lenz stießen hinzu, zusammen schubsten sie die Vermummten mutig zurück. Die auf den Tribünen verbliebenen Fans feierten ihn und riefen unentwegt seinen Namen.
„Vielleicht bekommt er ja nach der Karriere einen neuen Job als Ordner“, sagte sein damaliger Mitspieler Robert Andrich lachend. Gikiewicz selbst erklärte nachher, er habe „auf Deutsch, Polnisch und Englisch gesagt: ,Raus!‘ Sonst bekommt der Verein wegen ihnen noch mehr Probleme. Im Stadion sind viele Kinder gewesen, auch meine. Da brauchten wir nicht noch mehr Chaos.“
Erst später und wohl erst durch seine Frau wurde ihm bewusst, welcher Gefahr er sich da ausgesetzt hatte. „Meine Frau Ania sagte mir zu Hause, dass ich ein Idiot bin“, erzählte er später: „Ich hätte mich ja auch verletzen können. Die hätten ein Messer haben können. Aber es war ein Impuls. Ich wollte Ordnung schaffen.“ Letztendlich sei ihm ja auch nichts passiert. „Ein Ultra hat mir ein bisschen an den Hals gefasst. Aber ich hatte keine Angst.“
Kompromisslos war der Pole auch, als Union ihm im Mai 2020 nach Aufstieg und Klassenerhalt nicht das Angebot machte, das er sich als Leistungsträger und Publikumsliebling erhoffte. Nachdem der Verein mitgeteilt hatte, man habe sich „in mehreren Verhandlungsrunden wirtschaftlich nicht einigen“ können, erklärte Gikiewicz später in einem Interview in seiner Heimat, das Geld habe gar nicht die entscheidende Rolle gespielt. Es sei klar, „dass Geld wichtig ist, aber nicht an der ersten Stelle steht. Ich war bereit, für Union mit meinen Erwartungen nach unten zu gehen.“ Sein Problem: „Vom ersten Treffen an hatte ich nicht das Gefühl, dass der Club seinen besten Spieler halten will.“ Da war es wieder, das Selbstvertrauen, das ganz oben ist.
Ganz bescheiden gibt sich Gikiewicz dagegen, wenn es darum geht, den Traum von der polnischen Nationalmannschaft doch noch zu erfüllen. „Eine Minute gegen San Marino oder Weißrussland würde mir schon reichen“, sagte er: „Ich warte weiter auf meine Chance. Ich will einfach ein Länderspiel machen. Ich will für meine Kinder einfach den Traum schaffen und beweisen, dass man mit harter Arbeit auch als No-Name-Torhüter alles schaffen kann.“
Weit gebracht hat er es auch so schon. Doch bei allem Selbstvertrauen weiß Gikiewicz, dass er nicht ohne Fehler ist. „Kein Mensch ist fehlerfrei“, sagt er: „Ich bin ja nicht Robocop.“