Als Tabellenführer ging Union Berlin in die Länderspielpause. Fans, Spieler und Verantwortliche dürften sich in der Zeit mit der Frage beschäftigt haben, ob der Titeltraum unrealistisch ist – oder vielleicht doch wahr werden kann.
Als Spitzenreiter erfreut sich Union Berlin derzeit großer Beliebtheit – und selbst der „Ex" hat sein Herz für die Eisernen wiederentdeckt. „Ich habe mitbekommen, was die Fans gesungen haben. Es ist ein schönes Gefühl, so etwas zu hören von den Fans einer Mannschaft, wo man mal gespielt hat", bedankte sich Max Kruse bei Instagram. Der frühere Union-Torjäger und aktuell beim VfL Wolfsburg aussortierte Profi war beim jüngsten Berliner Heimspiel vor der Länderspielpause besungen worden. „Ohne Kruse habt ihr keine Chance!", hallte es beim Bundesliga-Heimsieg gegen Wolfsburg durch das Stadion An der Alten Försterei. Doch ein paar Union-Fans beließen es dabei nicht, sie suchten auch Kruses Haus in Berlin auf und lösten offenbar einen Polizeieinsatz aus. Das berichtete zumindest Kruse selbst.
„In der Nacht von Sonntag auf Montag war bei mir vor der Haustür sehr viel los. Hier waren einige Union-Fans mit Bengalos, die Polizei musste kommen, weil es ein bisschen zu laut wurde", so der 34-Jährige, der im vergangenen Winter zum Unverständnis vieler Unioner zum VfL gewechselt war. Sauer schien Kruse über den nächtlichen Besuch nicht gewesen zu sein. Er wisse „diese Anerkennung sehr zu schätzen" und bedankte sich „recht herzlich". Damit kein falscher Eindruck entsteht: Kruse ist beim Großteil der Anhänger keine Club-Ikone. Mit seinem geräuschvollen Abgang hat er sich in Köpenick keine Freunde gemacht. Auch sportlich trauern die Fans und Verantwortlichen dem Instinktfußballer längst nicht mehr hinterher – andersrum mag das vielleicht der Fall sein. Denn während Kruse beim erneut abstiegsbedrohten VfL unter Trainer Niko Kovac keine Chance mehr auf Einsatzzeiten hat, thront sein Ex-Club an der Spitze der Bundesliga. Vor Borussia Dortmund und sogar relativ deutlich vor dem FC Bayern München.
Ein Blick nach Europa zeigt, wie ungewöhnlich dies ist. In den vier anderen großen Ligen heißen die Tabellenführer Real Madrid, Paris Saint-Germain, SSC Neapel und FC Arsenal. Große Clubs mit langer und ruhmreicher Vergangenheit. Auch Union besitzt Tradition, doch mit gerade mal etwas mehr als drei Spielzeiten in der Bundesliga ist er längst noch kein gewachsener Spitzenclub. Und dennoch steht Union dank Konstanz, einem herausragenden Scouting und Coaching sowie etwas Glück an der Spitze. Auch wenn Präsident Dirk Zingler die Champions League oder gar den Meistertitel als „Hirngespinste" abtut – in der Szene trauen einige den Köpenickern mittlerweile den Coup zu.
Kruse gilt nicht als Ikone des Vereins
„Wenn Union mit dieser Energie, mit dieser defensiven Stabilität weitermacht, dann wird es jeder Club gegen sie schwer haben", sagte der frühere Bundesligatrainer Ewald Lienen: „Ich freue mich, dass das kleine gallische Dorf so weit gekommen ist." In der Länderspielpause ist vielen Fans und vielleicht auch erst manchem Spieler und Verantwortlichen bewusst geworden, was für ein famoser Saisonstart hingelegt wurde. Und was noch alles möglich ist. „Träumen ist erlaubt. Warum nicht? Ich habe das mit Kaiserslautern 1998 erlebt, als wir als Aufsteiger Meister wurden", erzählte der frühere Nationalspieler Michael Ballack in der „Sport Bild". Er berichtete von seinen damaligen Erfahrungen: „Man kann sich schon in einen Rausch spielen, der dich während der gesamten Saison trägt."
Dies konnte man auch in der englischen Premier League in der Saison 2015/16 sehen, als Leicester City allen Topclubs aus Manchester, Liverpool und London ein Schnippchen schlug und sensationell Meister wurde. Abwehrspieler Maya Yoshida erlebte Leicesters Titel-Märchen hautnah mit, er spielte damals beim FC Southampton. Aktuell steht der japanische Nationalspieler bei Schalke 04 unter Vertrag, der vor einigen Wochen von Union mit 1:6 aus der eigenen Arena geschossen wurde. Danach erkannte Yoshida bei den Berlinern als einer der ersten die Titelreife. „Sie haben nicht die Qualität wie Bayern München", sagte der 34 Jahre alte Routinier, „aber sie folgen ihrer Struktur sehr streng und spielen gut. Genau wie Leicester City vor ein paar Jahren."
Und genau wie damals Leicester nehmen die Unioner den Schwung zwar gern mit, die Bürde eines Titelkandidaten streifen sie aber ab. Als die Fans jüngst in der Alten Försterei zum Klassiker „Deutscher Meister wird nur der FCU" ansetzten, betonte Vizekapitän Rani Khedira: „Die Fans meinen das ironisch. Und wir wissen das auch schon gut einzuschätzen." Spieler, Trainer, Manager – sie alle folgen dem Mantra der „Momentaufnahme". Die sei zwar sehr schön und erleichtere die Arbeit, verschleiere aber nicht den Blick auf die Realität. So oder so ähnlich lassen sich alle Aussagen der Protagonisten zur Tabellenführung deuten. Fakt ist aber auch: Im Auswärtsspiel am Samstag (1. Oktober) bei Eintracht Frankfurt will Union den Platz an der Sonne mit aller Macht verteidigen.
Das Understatement ist nicht nur lieb gewonnene Tradition bei den Rot-Weißen, es hat auch Gründe. Zum einen ist die Kader-Qualität natürlich nicht mit der von Bayern, Dortmund oder Leipzig zu vergleichen. Zum anderen sagen die Statistiken eindeutig, dass Union derzeit überperformt. Das heißt, das Team spielt erfolgreicher, als es eigentlich sollte. Der Anbieter „understat", der mithilfe statistischer Daten die zu erwartenden Tore und Punkte von Mannschaften errechnet, bestätigt diesen Eindruck: Im statistischen Normalfall dürfte Union „nur" 9,4 Punkte haben, tatsächlich sind es aber 17. Ähnlich eklatant ist die Differenz bei den Toren: Eigentlich hätte Union 8,78 Treffer weniger erzielen und 2,3 Gegentore mehr kassieren müssen.
Taktik ist bekannt, doch schwer zu verteidigen
All diese Zahlen belegen vor allem eins: Union ist momentan brutal effektiv. Man sieht, dass in der Mannschaft trotz etlicher Umbrüche die Automatismen nahezu perfekt sind. „Was sie in der Bundesliga spielen, ist überragend", sagte Lienen und zeigte ein typisches Union-Muster auf: „Ein langer Ball von Trimmel auf Jordan oder über die Außen auf Becker, und dann geht es zack, zack, zack. Da wartet keiner, dass alle nachrücken. Entweder ist der Ball im Tor oder knapp daneben." Diese oft von Kapitän Christopher Trimmel eingeleiteten überfallartigen Angriffe über das Sturm-Duo Jordan Siebatcheu und Sheraldo Becker sind in der Liga längst bekannt und trotzdem so schwer zu verteidigen. „Union spielt mit zwei Stürmern, die ihresgleichen suchen", meinte Lienen. Der groß gewachsene Siebatcheu bringt Körperlichkeit und vor allem Torinstinkt mit, der pfeilschnelle Becker Geschwindigkeit und Dribbelstärke. Dass beide im ligaweiten Scorer-Ranking auf Platz eins (Becker) und sechs (Siebatcheu) liegen, ist auch ein Grund für Unions Höhenflug.
Die Basis für den Erfolg ist und bleibt bei Union aber die Verteidigung. Im Schnitt lässt das Team pro Spiel nur 3,9 Torchancen zu – das ist ein herausragender Wert. Wie das geht? Mit Kompaktheit und Kompromisslosigkeit. Kein anderes Team hat bislang mehr Zweikämpfe (1.504) bestritten, kein anderes Team kommt auf mehr Fouls (106) – doch dabei stellen sich die Berliner extrem clever an. Mit nur sechs Gelben Karten führen die Eisernen auch die Fairness-Tabelle der Bundesliga an. Zufall ist das nicht, wie Linksverteidiger Niko Gießelmann verriet. Jeder Spieler wisse ganz genau, „was er auf dem Platz zu tun hat". Das sorgt für eine defensive Stabilität, „und wenn du wenige Chancen zulässt, hast du gute Karten, das Spiel zu gewinnen oder mindestens ein Unentschieden zu holen". Oder vielleicht am Ende sogar die Schale in den Händen zu halten.