Eine geschichtsträchtige Bergbahn fährt durch das wildromantische Schwarzatal und erklimmt die Höhenlagen des Schiefergebirges. Die Reise führt zu prächtigen Kirchen und Schlossanlagen, zu legendären Kinderpädagogen und Kräuterkundlern.
Abends ist es am schönsten. Also dann, wenn die Tagesbesucher schon wieder auf dem Rückweg nach Hause sind, und wenn die meisten der Radfahrer und Wanderer bereits in der Gaststätte sitzen und unterm Abendbrottisch erschöpft, aber glücklich ihre Beine ausstrecken. Dabei sollte man mindestens einmal am Abend noch unterwegs gewesen sein. Am besten mit der letzten Fahrt des Tages, stets um acht Minuten nach acht, und immer pünktlich wie die Eisenbahn. Genau dann wirkt die Landschaft in einer der schönsten Ecken des Thüringer Walds nämlich wie die lebendig gewordene Vision eines romantischen Malers, wie eine begehbare Illustration aus einem Märchenbuch.
Sommerresidenz der Fürstenfamilie
Tief unten im eng eingeschnittenen Tal, wo Eisvögel und Feuersalamander an der rauschenden Schwarza leben, hat sich bereits die Dämmerung ausgebreitet. Im Bahnhof gibt eine schellende Klingel den Passagieren das Signal zur Abfahrt. Am Pult des Wagens steht Bergbahnbedienerin Annett Selmikat und drückt ein paar Knöpfe. Die alte Güterbühne mit ihrem Cabrio-Aufsatz ruckelt, dann geht es überraschend geschmeidig los. Hier prustet keine historische Dampflok, hier scheppern keine Puffer und quietschen keine Bremsen. Um die 323 Höhenmeter und bis zu 25 Prozent Steigung auf der 1,4 Kilometer langen Strecke auf das Hochplateau des Schiefergebirges überwinden zu können, mussten sich die Ingenieure etwas einfallen lassen. Was sie vor bald 100 Jahren an Technik entwickelt haben, funktioniert bis heute. Der Herzschlag der Bergbahn ist das Pochen eines scheinbar endlosen Seils, das den Wagen langsam, aber stetig nach oben zieht: 18 Minuten lang geht es nahezu lautlos durch den Wald.
Zwei Grünspechte teilen sich mit Klopfzeichen die aktuellen Neuigkeiten mit, ein Reh steht zwischen prallen Heidelbeerbüschen wie angewurzelt unter einer mächtigen Tanne. Hinter der Weiche, an der sich das Gleis teilt, um Platz zu schaffen für den parallel nach unten fahrenden Personenwagen, flutet dann goldenes Abendlicht die Landschaft. Die Schieferdächer der Häuser leuchten, aber auch eine Reihe von Holzskulpturen: Eine verweist auf den in der Gegend geborenen Pädagogen Friedrich Fröbel, andere auf die früher hier lebenden Buckelapotheker und Kräuterfrauen. Wer mit der Bahn im Thüringer Wald unterwegs ist, fährt also nicht nur mit einem historischen Wunderwerk der Technik einen Berg hinauf, sondern macht gleichzeitig einen Ausflug in die jüngere Geschichte – und in die goldene Epoche des Reisens mit der Eisenbahn.
Ob sie nun in Eisenach oder in Gotha wohnen, in Erfurt oder in Jena: Für viele Einheimische ist der Thüringer Wald mit seinen weitläufigen Nadelwäldern und dem legendären Rennsteig-Wanderweg ein beliebtes Naherholungsgebiet. Doch auch der Rest der Republik hat es nicht wirklich weit ins Herz des Thüringisch-Fränkischen Mittelgebirges, das von der Werra bis an die tschechische Grenze reicht. Wer im ICE auf der Neubaustrecke von Berlin nach München donnert, sieht von Deutschlands Mitte allerdings kaum etwas: Es fühlt sich an, als stecke man die ganze Zeit im Tunnel. Um die Schatztruhe namens Schiefergebirge mit dem bis zu 300 Meter tief eingeschnittenen Schwarzatal zu entdecken, braucht es Zeit. Annett Selmikat, die Bergbahnbedienerin, bringt es auf den Punkt: „Wer mit uns in den Thüringer Wald hochfährt, kann wunderbar runterkommen."
Kochkurse mit der Kräuterfrau
Also los: „Einsteigen, bitte!". Die Thüringer Bergbahn verläuft im Tal, auf dem Berg und mittendrin. Klingt kompliziert? „Es gibt drei Bahnstrecken", erklärt Annett Selmikat. Nämlich die im Tal verlaufende Schwarzatalbahn, die Standseilbahn von Obstfelderschmiede hinauf nach Lichtenhain und die sogenannte Flachstrecke weiter nach Cursdorf. Was kompliziert klingt, erschließt sich mit einem Blick auf die Karte von selbst. Das Tagesticket gilt überall, und die Fahrpläne sind aufeinander abgestimmt.
Los geht es im Örtchen Rottenbach. Hier startet die Schwarzatalbahn und fährt in 41 Minuten bis nach Katzhütte – eine spektakuläre Strecke, die in weiten Teilen dem sprudelnden Fluss folgt, der sich durch das Schiefergestein gezwängt hat. Hier verkehren Triebwagen, wie sie die Deutsche Bahn auch anderswo einsetzt. Wobei das nicht ganz stimmt: Der Waggon ist als fürstliche Kutsche dekoriert. Eine hübsche Prinzessin im Reifrock und ein schmucker Prinz mit Perücke grüßen von den Wänden und erzählen reisenden Kindern aus ihrem Leben.
Die ehemalige Sommerresidenz der Fürstenfamilie ist das Schloss Schwarzburg, einen kurzen Spaziergang vom Bahnhof entfernt. Auch wer kein Waffennarr ist, wird beeindruckt sein von der Sammlung im Zeughaus. 5.000 Objekte aus fünf Jahrhunderten, von bronzenen Geschützen bis zu prunkvollen Jagdgewehren, lassen sich hier in der historischen Rüstkammer bestaunen: Eine solche Fülle gibt es sonst nirgendwo in Deutschland. Wer sich danach die Beine vertreten will, wandert die Schwarza entlang, um dann wieder in den Zug zu steigen. Oder marschiert hoch auf den Trittstein, um den Blick zu genießen: „Die Aussicht ist eine der hübschesten Deutschlands und wohl die malerischste Thüringens", ließ der Schriftsteller Karl Emil Franzos, der nach der Eröffnung der Bahnstrecke im Jahr 1900 hier unterwegs war, wie seine Leser wissen. Heute kann man die Region auch in acht Etappen auf einem 136 Kilometer langen Panoramaweg erkunden.
Die Standseilbahn ist die entspannte Alternative, um ins Hochland zu kommen. Annett Selmikat und ihre Kollegen erklären deren Prinzip während der Fahrt. Spielt das Wetter mit, darf man sogar „oben ohne" nach oben fahren: Dann kommt statt des geschlossenen Wagens ein offenes Cabrio mit Sonnenschirmen zum Einsatz. Im Maschinarium in der Bergstation lässt sich der Bergbahnantrieb dann live bestaunen: Das umlaufende Seil, das die Wagen verbindet, wird von gigantischen Treibscheiben mit vier Metern Durchmesser bewegt.
Die nächste Etappe mit dem historischen Triebwagen auf der Flachstrecke wird dann unverhofft zu einer Safari für die Sinne. Auf den Wiesen rechts und links vom Gleis stehen Mutterkühe auf biologisch bewirtschafteten Blumenwiesen. Dass man den Duft des Sommers bis in die Bahn hinein zu riechen glaubt, ist kein Zufall: Der sogenannte Olitätenwagen hat ein Glasdach, aber keine Fenster. Aus dem Lautsprecher summen Bienen und Hummeln, und mit einem Kräuter-Memory stimmen sich die Passagiere ein auf das, was sie draußen erwartet.
„Olitäten sind Heilmittel, die im 18. Jahrhundert von Kräuterfrauen in der Region hergestellt wurden", erzählt Katharina Eichhorn. Sie kümmert sich nicht nur um Gäste, die das Geburtshaus von Friedrich Fröbel in Oberweißbach besuchen, wo eine Ausstellung vom Leben und Wirken des berühmten Pädagogen erzählt. Entlang eines Wanderwegs hat sie auch 90 Schilder aufgestellt, um über die heilende Wirkung der Pflanzen zu informieren. „Es gab hier früher ein großes Wissen um die Naturheilkunde: Einst packten Buckelapotheker die Arzneien auf den Rücken und wanderten als Verkäufer damit durch halb Europa."
Das ist inzwischen Geschichte, doch noch heute gibt es in vielen Familien nach dem Essen einen hausgemachten Magenbitter. Eine Kräuterfrau aber serviert ein ganzes Kräuter-Menü: Elke Kiesewetter vom „Hotel im Kräutergarten" in Cursdorf. Sie zaubert Frischkäsebällchen mit Giersch und Camembert mit Brennnessel und Bärwurz hervor, tischt Kräutersüppchen und Fischfilet mit Kräuterkruste auf und überrascht zum Schluss mit einem Minzeis mit Gundermann-Aroma. Die Rezepte teilt sie gern bei Kochkursen mit ihren Gästen. Wer aber wissen will, welche Kräuter in der nach Hausrezept angefertigten Thüringer Rostbratwurst stecken, beißt auf Granit. „Majoran, Oregano … Und noch ein paar andere Dinge, doch die behält der Metzger für sich", sagt sie freundlich. Probieren darf man aber. Und stellt fest: Die Bergbahn bringt einen hinauf in den Thüringer Wald. Die Bratwurst aber katapultiert einen beim ersten Biss in den siebten Himmel.