Die weltweite Trauer um die britische Königin Elizabeth II. ist aufrichtig, ihre Beerdigung ein globales Ereignis. Und gleichzeitig heißt es: Die Queen ist tot, es lebe der King!
Das Vereinigte Königreich hat eine große Gabe: Es kann – so schien es bislang – die Zeit festhalten. Kaum irgendwo sonst auf der Welt als im Viervölkerstaat aus den Ländern England, Schottland, Wales und Nordirland scheint die Zeit so stehen geblieben zu sein. Und das, während sich die Welt um die Insel herum rasant verändert.
Das Symbol dieses eigenartigen Schwebezustandes zwischen Vergangenheit und Zukunft war die Queen. Sie nährte allein durch ihr Dasein die Illusion, plüschig gewordene Sitten und Gebräuche könnten widrige Zeitläufte überstehen. Die einen betrachteten das mit Faszination. Andere dagegen packte das Grausen.
Elizabeth II. hat mit ihrem Tod am 8. September im Norden ihres Inselreiches auf dem geliebten Schloss Balmoral einen jahrzehntelang verzurrten Anker gelichtet. Nun sitzt König Charles III. auf dem Schiff. Mit ihm am Ruder der britischen Monarchie kommen ein neuer Stil und ein neues Selbstverständnis.
Der 73-jährige Neu-Monarch wird voraussichtlich kein Leisetreter sein – wenn er sich treu bleibt. Als Thronfolger im Wartestand jedenfalls hatte der älteste Sohn der Queen des Öfteren sehr freimütig seine Ansichten geäußert, wie seine Mutter es nie getan hätte. Bemerkenswert ist etwa sein offenes Verständnis für Klimademonstranten. Zitat: „Ich verstehe den Frust völlig. Wir müssen verstehen, wie verzweifelt vor allem viele junge Menschen sind, die protestieren. Die Schwierigkeit besteht darin, diesen Frust in einer Weise zu lenken, die konstruktiv statt destruktiv ist."
Neuer Stil, neues Selbstverständnis
Ein zweites Thema, das Charles III. umtreibt, ist die moderne Architektur. Ausgerechnet 1984 zum 150-jährigen Jubiläum des Königlichen Instituts Britischer Architekten (RIBA) hielt er der leicht entsetzten Festgesellschaft den Spiegel vor. Den damals geplanten Erweiterungsbau der National Gallery in London nannte er ein „monströses Karbunkel auf dem Gesicht eines sehr geliebten und eleganten Freundes". Das geplante Gebäude blieb tatsächlich auf dem Reißbrett stecken.
Später forderte der Freund naturbelassener Gärten, Gebäude müssten „den menschlichen Proportionen entsprechen" und veröffentlichte „10 Grundsätze für die Architektur". Immer wieder intervenierte er gegen Bauvorhaben. Darunter gegen ein Bürogebäude des deutschen Architekten Mies van der Rohe nahe der Bank of England oder eine Platzumgestaltung neben der St. Pauls Cathedral.
Seine flotten Meinungen haben den heutigen König angreifbar gemacht. „Wenn Charles gegen die moderne Architektur wettert, wettert er im Grunde genommen gegen historische Prozesse der industriellen Revolution und beklagt die damit einhergehende Schwächung seiner königlichen Macht", kritisiert Douglas Murphy, Autor des Fachbuchs „The Architecture of Failure" und Architekturredakteur der Zeitschrift „Icon". Andere Kritiker werfen dem König vor, ein Faible für Pseudowissenschaften zu haben.
Nicht mehr unantastbar
Charles III. haben die Anwürfe nie verunsichert. Er redet aus Überzeugung. Die hölzerne Nichtkommunikation der „stiff upper lip", wie sie die stets betont meinungsneutrale Queen geübt hatte, ist offenbar bereits auf dem Schuttplatz der Historie gelandet. Wird Charles III. der König der Diskussionen?
Der neue britische König wird, so ist zu vermuten, fast schon in präsidialem Stil als Mahner und Gewissen seiner Nation auftreten. Das würde die absehbar eher kurze Regierungszeit des Monarchen radikal von der über 70-jährigen Regentschaft seiner Mutter unterscheiden. Die Öffnung für das weltliche Tagesgeschehen, die an sich ja etwas Positives ist, birgt auch Gefahren. Die über 1.000 Jahre alte monarchische Tradition und das heutige Königshaus könnten den Glanz der Abgehobenheit verlieren. Begibt sich Charles III. in tagesaktuelle politische, soziale und kulturelle Niederungen, lädt er automatisch zu Widerspruch ein. Stimmen werden lauter werden, die in Monarchen ohnehin nur Opium fürs Volk sehen.
Halten wir fest: Die unausgesprochene Unantastbarkeit des Oberhauptes von Nation, Anglikanischer Kirche und Familie Windsor hört auf. Die Queen als gemeinsamer Nenner ist verloschen. Britanniens seliger Zustand der Gleichzeitigkeit von Vergangenheit und Zukunft gerät aus der Balance. Die jahrzehntelang im UK gepflegte Illusion von Ewigkeiten in der Geschichte ist ausgeträumt. Die Zeit geht weiter. Auch in dem Königreich, das zwischen Ärmelkanal und Shetland-Inseln keineswegs so vereinigt ist, wie die Queen es uns erscheinen ließ.