Viele Senioren leiden unter einem Mangel an sozialen Kontakten. In den USA können sie sich junge Leute ins Haus holen – gegen Geld. Ein Modell auch für Deutschland?
Von außen sieht man die Einsamkeit nicht. Der Rasen ist gepflegt, im Vorgarten stehen Blumenkübel und kleine Plastik-Windräder. Dem Aussehen nach könnte in dem kleinen Bungalow in Miami ein junges Paar oder eine Familie mit Kindern leben. Doch der Eindruck täuscht: Der Hausherr ist 92 Jahre alt, lebt allein und kommt ohne fremde Hilfe nicht mehr zur Tür.
Genaro Gomez sitzt in einem Sessel im Wohnzimmer: Kapuzenpulli, Wollmütze, Sauerstoff-Schlauch unter der Nase. Im Haus ist es kühl und dunkel, die Jalousien sind zugezogen. „So kann ich besser entspannen“, sagt Gomez. Um ihn herum steht alles, was er im Alltag braucht: ein kleiner Kühlschrank, eine Schüssel Bananen, ein Schränkchen mit Medikamenten. Per Fernbedienung und Handy kann er nicht nur den Fernseher steuern, sondern auch die Überwachungskameras in seinem Garten. „Meine Kommandozentrale“, sagt der 92-Jährige und lacht.
Früher hat er in Kalifornien gelebt, als Schauspieler und Tänzer gearbeitet. Viel Spaß, viel Action, immer was los. Sogar in der Westernserie „Bonanza“ hat er mitgespielt, wie er stolz per Youtube-Video beweist. Heute hingegen will er nur noch seine Ruhe. „Ich bin froh, dass ich alleine wohne“, sagt er. „So kann mir wenigstens niemand vorschreiben, was ich zu tun habe.“
Längst ist klar, dass Einsamkeit krank machen kann
Doch dann kam die Pandemie. Gomez’ Assistentin, die normalerweise für ihn einkauft und kocht, wurde krank. Zwar kamen die Pfleger noch, doch für alles, was über körperliche Pflege hinausgeht, hatten sie schlicht keine Zeit. Als 92-Jähriger ohne Familie und Freunde fühlte sich Genaro Gomez plötzlich unglaublich hilflos. „Zwei Tage lang hatte ich nichts gegessen. Ich wusste nicht, wen ich anrufen sollte. Kein Essen, kein Geld, keine Unterstützung.“
Beim Surfen im Internet stieß er schließlich auf die Firma Join Papa, die sogenannte Miet-Enkel vermittelt: junge Leute, die älteren Menschen gegen Bezahlung Gesellschaft leisten. In vielen Fällen wird die Leistung von der Krankenversicherung übernommen, so auch bei Genaro Gomez. Denn längst ist klar, dass Einsamkeit nicht nur aufs Gemüt schlägt, sondern krank macht. Der Sozialverband AARP beziffert die Mehrkosten, die dem amerikanischen Gesundheitssystem durch vereinsamte Menschen entstehen, in einer Studie auf 6,7 Milliarden Dollar. In Großbritannien gibt es seit 2018 sogar eine Einsamkeitsministerin.
Jeden Morgen um 10 Uhr steht nun Ralf Gawel bei Genaro Gomez vor der Tür. Der deutsche Auswanderer hat mit seinen 67 Jahren das Enkel-Alter zwar schon ein wenig überschritten. Genaro Gomez bezeichnet ihn trotzdem als „jungen Burschen“. Mit viel Elan schreitet Gawel dann auch zur Tat, mixt einen Grünkohl-Smoothie, brät ein Spiegelei, setzt sich ins Wohnzimmer, um mit seinem „Großvater“ zu plaudern. Bevor sie über Philosophie reden, fällt ihm Genaro Gomez dann aber noch einmal ins Wort. „Der Smoothie ist aber bitter“, befindet der Senior und gibt den Plastikbecher zurück. „Jawohl, King Gomez“, antwortet Gawel.
Viel Zeit bleibt für die tägliche Gesellschaft nicht, denn der Miet-Enkel wird von der Krankenversicherung nur für eine Stunde täglich bezahlt. Manchmal bleibt Ralf Gawel trotzdem länger – er sieht sein Miet-Enkel-Dasein nicht als Job, sondern eher als Ehrenamt. „Ich bin geschieden, habe aber zwei Kinder“, sagt Gawel, der jahrelang als TV-Produzent gearbeitet hat. „In der Pandemie habe ich mich oft gefragt, wie es älteren Menschen gehen muss, die gar keine Bezugspersonen mehr haben.“ Dass Miet-Enkel nur zwischen elf und 14 Dollar pro Stunde verdienen, mache ihm nichts aus. „Für mich ist das kein Geschäft, sondern ein Gewinn. Wir können so viel von älteren Menschen lernen.“
Für das Unternehmen, das hinter den Miet-Enkeln steht, ist es allerdings sehr wohl ein Geschäft. Laut eigenen Angaben bietet Join Papa bereits in 20 US-Bundesstaaten seinen Dienst an. 500 Mitarbeiter arbeiten aktuell für die Firma, seit Gründung im Jahr 2016 haben die Miet-Enkel bereits 500.000 Besuchsstunden absolviert. Zu Umsatz und Gewinn schweigt sich die Firma bisher aus; Investoren haben bislang rund 150 Millionen Dollar in das Unternehmen gesteckt – eine sichere Geldanlage in einem Land, in dem schon heute jeden Tag 10.000 Menschen ihren 65-jährigen Geburtstag feiern.
Firmengründer Andrew Parker ist erst 34 Jahre alt. Manchmal fährt er selbst zu den Senioren, die sich bei Join Papa registrieren. Dass er der Chef ist, verrät er nicht, damit sich niemand komisch vorkommt. „Mein Großvater war in einer sehr ähnlichen Situation“, erklärt Parker. „Er hatte acht Enkel, die aber alle berufstätig waren. Ich habe lange Zeit eine Person gesucht, die mit ihm einkaufen geht, ihn zum Arzt fährt, mit ihm fernsieht oder einfach nur ein bisschen Zeit mit ihm verbringt.“ Weil es eine solche Dienstleistung nicht gab, gründete er sie schließlich selbst – Join Papa war geboren.
Doch lässt sich Gesellschaft einfach so kaufen wie ein Stück Toastbrot oder eine Banane? Ist es kein Armutszeugnis für ein Land, dass Miet-Enkel überhaupt nötig sind – vor allem dann, wenn echte Verwandte oder Nachbarn helfen könnten? Andrew Parker hat diese Fragen schon oft gehört. Statt eine Grundsatzdiskussion zu führen, möchte er mit seiner Firma lieber konkrete Abhilfe schaffen. Auch er habe keine Zeit gehabt, seinem (inzwischen verstorbenen) Großvater immer zur Seite zu stehen. Aber er habe sich um professionelle Hilfe bemüht. „Es geht hier nicht nur ums Geld“, betont auch er. „Viele unserer Paare werden echte Freunde.“
„Wir würden gern nach Deutschland expandieren“
So bizarr das Miet-Enkel-Modell für deutsche Ohren auch klingen mag: Ganz unrealistisch ist es nicht, dass ähnliche Dienstleistungen irgendwann auch hierzulande angeboten werden. Bereits heute gibt es zahlreiche Onlinedienste, durch die Senioren mit der Welt in Kontakt bleiben können – vom Yoga-Kurs bis zur Videokonferenz beim Onlinedoktor. Mit „Silbernetz“ existiert bereits eine Hotline, bei der einsame Menschen anrufen können (Telefon 0800-4708090). Dass irgendwann auch noch Miet-Enkel hinzukommen, erscheint in einer alternden Gesellschaft nur logisch. „Wir würden gern nach Deutschland expandieren“, bestätigt auch Andrew Parker von Join Papa. „Aber nur, wenn die gesetzlichen Krankenkassen dafür bezahlen.“
Anfrage beim AOK-Bundesverband: Wäre ein solcher Dienst in Deutschland denkbar? Der Pressesprecher antwortet, dass soziale Isolation „eine riesige gesamtgesellschaftliche Herausforderung“ darstelle. Miet-Enkel gehören seines Wissens noch nicht zum Repertoire der Krankenkassen. Ausschließen will er es für die Zukunft aber nicht.
Gleichzeitig besteht die Sorge, dass Kriminelle das System ausnutzen könnten – auch bei Join Papa, wenngleich das niemand so offen sagt. Da es sich um keine pflegerischen Tätigkeiten handelt, haben die meisten Miet-Enkel keine Ausbildung im Umgang mit älteren Menschen. Schon in Pflegeheimen gibt es immer wieder Fälle von Misshandlungen oder Diebstählen. Wie also soll so etwas in Privatwohnungen vermieden werden, in denen Miet-Enkel ein- und ausgehen? Darauf angesprochen sagt Parker, man schaue bei Bewerbungen eben sehr genau hin. Auch könnten sich die Miet-Enkel permanent weiterbilden.
Manchmal kommt es trotzdem zu seltsamen Begegnungen. Genaro Gomez, der 92-jährige Rentner aus Miami, hatte zunächst einen anderen Miet-Enkel. „Ein lustiger junger Kubaner“, sagt Gomez. Leider habe es immer nur ein Thema gegeben, über das er reden wollte: seine Besuche bei Prostituierten. Dafür, sagt Gomez, sei er dann doch ein wenig zu alt.