Pluralität und Diversität gehören zum Wertekodex vieler Universitäten und Schulen. Sie zu leben, will gelernt sein. Dr. Linda Balzer möchte mit der „Lernwerkstatt Religion Plural“ mehr Toleranz schaffen. Laut ihr hilft dabei vor allem: Fehler machen.
Ich gebe zum Ende des Semester immer Zettel aus, wo drauf steht ‚Das nehme ich mit‘, mit einem Koffersymbol, und ‚Das lasse ich hier‘, mit einem Papiermülleimer. Da hat mir jemand einen Zettel mitgegeben, wo unter ‚Das lasse ich hier‘ stand: den Zweifel am Lehrerberuf.“ Das erzählt Dr. Linda Balzer, Leiterin und Dozentin der „Lernwerkstatt Religion Plural“ (LeRP) der Universität des Saarlandes (UdS). Sie fährt fort: „Das war für mich eines der größten Komplimente, die ich erhalten habe. Dass ich die Einstellung von diesem Menschen noch mal ändern konnte, denn dieser Mensch wollte den Lehrerberuf aufgeben.“
Und genau darum geht es in der LeRP: Zweifel äußern, Fragen stellen, Antworten finden – und das vor allem gemeinsam. Die LeRP ist ein Projekt, das 2016 im Zuge der „Qualitätsoffensive Lehrerausbildung“ begann, ein Bund-Länder-Programm, um die Qualität der Lehramtsausbildung an Hochschulen zu verbessern. Linda Balzer erhielt den Auftrag, eine Lernwerkstatt in der Theologie zu errichten. Nachdem die Flüchtlingsthematik im Jahr 2015 so hochgekocht war, erschien ihr ein Thema besonders naheliegend: religiöse Pluralität.
Diskutieren und reflektieren
„Ich will, dass es in der Lernwerkstatt um die Frage geht, wie wir zwischenmenschlich miteinander umgehen. In der Schule, Schüler und Lehrer, aber auch Schülerinnen und Schüler“, erklärt die Dozentin. Ihr wissenschaftlicher Mitarbeiter Sebastian Maria Sauer fügt hinzu: „Die Lernwerkstatt hat ein viel breiter gefächertes Ziel, weil wir Werte vermitteln und nicht nur auf die Aspekte des Professionswissens für Lehrpersonen vorbereiten wollen. Die Studierenden lernen in der Lernwerkstatt Dinge, die sie bei Streitigkeiten auf dem Pausenhof einsetzen, für sich im privaten Leben nutzen oder mit Familie und Freunden austauschen können.“ Die LeRP soll mehr Verständnis für Randgruppen und eine höhere gesellschaftliche Pluralität schaffen. Linda Balzer steht allerdings nicht am Dozierendenpult und hält einen einstündigen Vortrag. Es läuft ein bisschen anders.
In der LeRP kommen vor allem Lehramtsstudierende zusammen, doch willkommen sind auch Bachelor- und Masterstudierende – alle eben. Linda Balzer fungiert eher als Moderatorin. „Eine konkrete Arbeitsanweisung gebe ich eigentlich ungern. Die Studierenden sehen die Relevanz des jeweiligen Themas und diskutieren dann auch in Gruppen darüber. Danach stellen sie es dem Plenum vor und daraus entsteht dann eine gemeinsame Diskussion“, erklärt sie. Genau aus diesem Konzept ergeben sich die Lerninhalte der LeRP. Sebastian Maria Sauer erinnert sich an ein Beispiel: „In einer Sitzung hat es mit der Kippa angefangen. Dann ging es über zum Kopftuch und dass das doch eigentlich das Gleiche sei. Dann erzählte einer von seiner ukrainisch-orthodoxen Oma, die nur mit Kopftuch herumläuft, und es wurde gefragt, warum die einen das dürfen und die anderen nicht. Da entstand dann eine richtige Diskussion und Studierende, die vielleicht vorher für ein Kopftuchverbot waren, gestanden bei dem Beispiel mit der ukrainischen Oma ein, dass man da vielleicht doch noch andere Perspektiven mit reinnehmen muss.“
Für die Studentin Marie Weber machen genau diese Diskussionen die besondere Atmosphäre der Lernwerkstatt aus: „Man kommt zusammen und es fühlt sich gar nicht an wie ein Seminar von der Uni. Jeder sagt offen das, was er sagen möchte. Die Atmosphäre ist nicht von Angst beherrscht.“ Zunächst einmal sollte das eigentlich in keinem Uni-Seminar der Fall sein. Doch hier geht es nicht nur um eine „Angst“ vor dem Dozierenden. Es geht um die Angst davor, etwas Falsches zu sagen. Denn in einem Raum, wo Menschen mit verschiedener Herkunft, verschiedenen Hautfarben und verschiedenen Religionen zusammenkommen, kann das schnell passieren. „Es ist kein Weltuntergang, wenn man mal etwas Falsches sagt. Es ist nur wichtig, dass man es reflektiert und überlegt, ob man das Ganze noch mal so sagen würde“, ergänzt die Studentin für Grundschullehramt.
Marie Weber nimmt aus der LeRP mehr für ihr Leben mit als didaktische Inhalte, denn sie hat vor allem etwas über sich selbst gelernt. „Durch die Lernwerkstatt habe ich gemerkt, wie wenig ich eigentlich weiß“, erzählt sie und fährt fort: „Und dann dachte ich mir, daran muss ich ganz dringend arbeiten. Ich bin bald Grundschullehrerin und ich möchte die Kinder so wahrnehmen können und verstehen, wie sie sind.“
Auf die Wortwahl kommt es an
Pluralität und Diversität sind Begriffe, die mittlerweile an vielen Universitäten großgeschrieben werden. Doch was beides in gelebter Form bedeutet, ist für viele noch neu. Alltagsrassismus und diskriminierendes Verhalten bei sich selbst zu erkennen, erfordert ein besonderes Maß an Selbstreflexion – und vor allem erfordert es Courage. Marie Weber möchte mehr für andere einstehen: „Ich habe ein viel stärkeres Bedürfnis, in gewissen Situationen einzugreifen und zu sagen: Überleg mal, ob das wirklich so gut ist, was du da gesagt hast.“ Die Studentin möchte falsches Verhalten nicht mehr länger nur mit der Floskel „Die Person hat es sicher nicht so gemeint“ entschuldigen. Sie glaubt, es hätte auch ihrem persönlichen Umfeld nicht geschadet, wenn Themen wie Rassismus und religiöse Pluralität schon in der Grundschule angesprochen worden wären. Und sie möchte sich dafür einsetzen, dass über Fehlverhalten gesprochen wird, nicht um anzuprangern, sondern um aufzuklären.
„Ich würde sagen, dass man in meiner Lernwerkstatt dazu aufgefordert wird, sich mit kritischen Themen auseinanderzusetzen, die einen selbst auch mal vor den Kopf stoßen. Es ist ganz wichtig, auch mal Fehler zu machen. Anhand dieser Fehler erkenne dann auch ich in Bezug auf die Studierenden, an welcher Schraube gedreht werden muss“, bringt es Linda Balzer auf den Punkt. Sprache sei dabei zentral, denn die richtige Wortwahl kann einen großen Unterschied machen. An der Universität nennt man das Ausdrucks- und Formulierungskompetenz. Im Alltag beginnt diese beispielsweise damit, dass nicht jeder Mensch, den man als fremd wahrnimmt, auch ein Fremder oder eine Fremde ist, weshalb man auch nicht jeden Menschen geradeheraus nach seiner Herkunft fragen sollte. Fragen, die für den einen Menschen banal und unverfänglich scheinen, können für den anderen extrem verletzend sein. Oftmals wird diese Tatsache erst im direkten Austausch offengelegt. Und genau dafür ist die LeRP da.
Für Sebastian Maria Sauer ist der Perspektivwechsel ein entscheidendes Merkmal. Dinge, die man auf dem Papier lerne, betrachte man im Dialog noch mal anders: „Zum Beispiel, wenn man mit einem Muslim darüber redet, dass der Engel Gabriel im Prinzip in unseren beiden Religionen als Bote fungiert, und sich vorstellt, was das beispielsweise dogmatisch für diesen Muslim bedeutet.“
Linda Balzer möchte ihren Studierenden Raum lassen und sie nicht durch feste Vorgaben einschränken. Das merkt man auch, wenn man mit ihrem Mitarbeiter und ihrer Studentin spricht. „Gesamtgesellschaftlich wird meiner Meinung nach manchmal die religiöse Pluralität außer Acht gelassen, wenn über kulturelle Diversität geredet wird. Es geht dann um Ethnien, Hautfarbe, Genderfragen. Und ich denke, religiöse Pluralität ist für beide Seiten wichtig: Für die, die sich mit Diversität, aber nicht mit Religion auseinandersetzen, und für die, die sich mit Religion, aber nicht mit Diversität auseinandersetzen“, hält Sebastian Maria Sauer fest.
Marie Weber hat für sich die Wichtigkeit von Akzeptanz- und Toleranzerziehung erkannt und wünscht sich davon mehr im universitären, aber auch im persönlichen Alltag. Sie möchte in ihren zukünftigen Grundschulklassen von Tag eins an eine Atmosphäre der Akzeptanz und Toleranz etablieren, in der man über Gefühle spricht und lernt, bewusst mit Sprache umzugehen. Sie habe verstanden, dass es darum gehe, das Gemeinsame in den Blick zu nehmen – „etwas, woran alle arbeiten müssen.“