Wie schwer wird die Corona-Welle im kommenden Winter? Politik und Experten sind sich uneins. Unternehmen sollen jedenfalls vor Lockdowns sicher sein.
Die Pandemie ist beendet, erklärte US-Präsident Joe Biden. Dass sie in den Vereinigten Staaten weiterhin ein Problem bleibt, erkennt Biden jedoch zweifelsfrei an. Erst kürzlich hat das Weiße Haus den Kongress um zusätzliche Milliarden zur Bekämpfung des Virus gebeten, die US-Impfkampagne läuft seit Anfang September. Biden geht davon aus, dass die US-Bürger jedes Jahr eine Impfung erhalten – immer zu Beginn des Herbstes.
Die EU aber bleibt vorsichtig, an ein Ende der Pandemie denkt auch in Deutschland noch niemand in verantwortlicher politischer Position. Hierzulande haben die Impfungen mit den an die BA.1-Variante angepassten Impfstoffen Anfang September begonnen. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach zeigt sich angesichts der Geschwindigkeit erfreut: „Nicht einmal eine Woche nach der Zulassung durch die Europäische Kommission. Das ist ein Erfolg aller an der Impfkampagne beteiligten Akteure."
Länder legen Maßnahmen fest
Vor erneuten Lockdowns sind Unternehmen, vor allem das Gastgewerbe, in diesem Winter jedoch qua Gesetz sicher – diese werden nicht mehr kommen, versicherte Lauterbach, er habe diese auch nicht wieder gefordert. Die Länder könnten schärfere Maßnahmen verhängen. Dennoch rechnet Virologe Christian Drosten mit einer schweren Welle noch vor Dezember, die dann auch zu Arbeitsausfällen führen könnte. Er plädiert für eine Maskenpflicht in Innenräumen.
Mit in die Rechnung spielen könnte auch eine stärkere Grippewelle. Diese fiel in den vergangenen Jahren – wegen Lockdowns, Masken und Kontaktbeschränkungen – deutlich glimpflicher aus als sonst. Das könnte in diesem Jahr anders werden, glaubt die Deutsche Gesellschaft für Infektiologie. Eine Grippe- und Corona-Impfung könnte also sinnvoll sein, laut dem Robert-Koch-Institut muss hier auch kein 14-Tage-Abstand wie üblich zwischen zwei Impfungen eingehalten werden.
Auffrischimpfungen gegen Covid-19 könnten also bestimmten Bevölkerungsgruppen über den Winter helfen: Nach der Zulassung von an die Omikron-Variante angepassten Impfstoffen spricht sich die Ständige Impfkommission (Stiko) für deren bevorzugten Einsatz bei Auffrischimpfungen aus. Das Gremium bleibt allerdings bei der bisherigen Linie, zweite Covid-19-Booster nur bestimmten Gruppen wie Menschen ab 60 Jahren ans Herz zu legen. Das geht aus einer Stiko-Mitteilung hervor. Änderungen daran sind noch möglich. Immungesunde Menschen unter 60 Jahren mit drei Impfungen bräuchten die Viertimpfung in der Regel zunächst nicht, sagte Stiko-Mitglied Christian Bogdan.
Zudem gab der Bewertungsausschuss der Europäischen Arzneimittelagentur Ema grünes Licht für den an die Varianten BA.4 und BA.5 angepassten Impfstoff von Biontech/Pfizer. Für Anfang Oktober werden in Deutschland rund 19 Millionen Dosen dieses Impfstoffes erwartet. Die Logistik sei herausfordernd, deshalb sei es möglich, dass Bestellungen erst nach mehreren Teillieferungen erfüllt werden könnten, so Lauterbach in einem Schreiben des Bundesministeriums.
Die Kassenärztliche Bundesvereinigung berichtet, dass erste Impfdosen bereits am 19. und 20. September an den pharmazeutischen Großhandel ausgeliefert worden seien. Für Bestellungen stehen laut Angaben des Bundesgesundheitsministeriums zunächst rund zwei Millionen Dosen zur Verfügung, die am 26. oder 27. ausgeliefert werden sollen.
Dennoch gibt es Kritik. „Aus Fehlern sollte man eigentlich lernen", sagt KBV-Chef Dr. Andreas Gassen. „Mit einer tröpfchenweisen Verteilung der Impfstoffe können die Arztpraxen wenig anfangen. Sie brauchen verlässliche Informationen darüber, an welchem Tag sie wie viele Impfstoffe erhalten. Nur dann können sie ihre Patienten rechtzeitig einbestellen und zügig impfen."
„Überstürzte Aktionen helfen den Praxen nicht und gefährden den Erfolg der Impfkampagne", betonte KBV-Vizechef Dr. Stephan Hofmeister. Ärztinnen und Ärzte sollten erst einmal abwarten und die Impftermine zurückhaltend planen, rät die KBV. Gassen und Hofmeister hatten laut KBV das Bundesgesundheitsministerium aufgefordert, eine Impfkampagne erst zu starten, wenn sie vernünftig vorbereitet ist; einem entsprechenden Vorschlag des KBV sei das Ministerium jedoch nicht gefolgt.
Corona wird noch Jahre existieren
Dennoch läuft die Kampagne bereits, allerdings eher verhalten. Der Grund: Laut dem Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in Deutschland seien die millionenfachen Infektionen der vergangenen Corona-Welle und der frühe Zeitpunkt im Jahr dafür verantwortlich. Die Impfung nun soll bis ins Frühjahr reichen. Die beiden vorhandenen Impfstoffvarianten, für BA.1 und BA.4/BA.5, stünden zusätzlich in Konkurrenz zueinander – letztere könnten Patienten als „aktueller" ansehen, obwohl beide angepasst wurden. Können die Hausärztinnen und Hausärzte, die die Impfungen verabreichen sollen, dies ihren Patienten nicht plausibel erklären, könnten sie auf großen Mengen des „älteren" Impfstoffs sitzenbleiben.
Beide Impfstoffe lösten verglichen mit den bisherigen mRNA-Impfstoffen eine verbesserte Antikörperantwort gegenüber verschiedenen Omikron-Varianten aus, hieß es seitens der Stiko. Hinzu kämen gleichbleibend gute Antworten gegen die Variante aus der frühen Phase der Pandemie. Entscheidend sei, dass sich Menschen überhaupt impfen ließen und insbesondere den Empfehlungen zur Auffrischung folgten. Auch die bisherigen Impfstoffe könne man verwenden.
Das Vermeiden von schwerer Erkrankung, von Krankenhausaufenthalten und Tod seien die Ziele der Empfehlung, betonte Bogdan. Es sei hingegen nicht realistisch anzunehmen, dass sich sämtliche harmloseren Infektionen vermeiden ließen. Es gehe auch nicht um das Senken von Inzidenzen. Mittlerweile sei eine Situation erreicht, in der „eine sehr gute Basisimmunität in der Bevölkerung" existiere. Aus Deutschland eliminieren lasse sich das Virus auch mit den angepassten Impfstoffen nicht, sagte das Stiko-Mitglied.