Bundesfinanzminister Christian Lindner ist um seinen Job nicht zu beneiden. Fast täglich gehen bei ihm Forderungen nach Entlastungen ein. Doch der FDP-Mann pocht auf Haushaltsdisziplin.
Während Urlaubsdeutschland an fernen Stränden oder in den Bergen weilt, geht es im Berliner Regierungsviertel in diesen Wochen hoch her, trotz Parlamentsferien. Das politische Sommerloch fällt auch dieses Jahr aus. Gefragt sind vor allem Wirtschafts- und Klimaminister Robert Habeck (Grüne), Arbeits- und Sozialminister Hubertus Heil (SPD), Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) Landwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne) und Finanzminister Christian Lindner (FDP). Dabei sind die Rollen ziemlich ungleich verteilt: Vier gegen einen. Ausgerechnet Christian Lindner, im Selbstverständnis Macher, muss den Bremser geben, während seine anderen Kabinettskollegen mit immer neuen Forderungen und Ideen medial breit aufspielen. Die Vielzahl an Baustellen ist fast schon unüberschaubar. Publikumsträchtig geht es zuallererst um die Fortführung des bundesweit gültigen 9-Euro-Tickets für den ÖPNV. Alle sind begeistert. Finanzminister Lindner soll dafür im laufenden Haushalt weitere Milliarden bereitstellen, die er nach eigenen Angaben nicht hat. Der FDP-Chef äußert zwar viel Verständnis, aber ab 1. September soll wie vereinbart Schluss sein. Vier Milliarden Euro bis Ende des Jahres für eine Weiterfinanzierung sind einfach nicht da.
Der Koalitionspartner Grüne und die Länder drängen mit Vorschlägen wie 29-, 49- oder 65-Euro-Ticket auf eine Weiterführung. Die für den ÖPNV zuständigen Länder können das aber nicht allein finanzieren, der Ball liegt also beim Bund, sprich Finanzminister Lindner. Zwar werden Modelle durchgerechnet, aber eine Entscheidung noch bis Ende August ist fast auszuschließen.
Eine andere finanzielle Großbaustelle sind die rapide gestiegenen Energiekosten, allem voran Gas. Zum ersten Oktober dürfen die Versorger die wesentlich höheren Beschaffungspreise in einer ersten Gasumlage an die Verbraucher weitergeben. In einem zweiten Schritt soll die sogenannte Gasumlage für die erhöhten Kosten für Speicherung und verteuerte Beschaffung die Preise pro Kubikmeter um zwischen 1,5 und fünf Cent steigen lassen.
Entlastung der Bürger versus EU-Regelungen
Gestritten wird, ob dafür dann noch die eigentlich fällige Mehrwertsteuer erhoben wird. Die Forderung nach einem Verzicht darauf, um die ohnehin exorbitant steigenden Preise nicht endgültig explodieren zu lassen, stößt bei Lindner ebenfalls auf Verständnis. Aber er hat Bedenken mit Blick auf EU-Recht. Demnach kann ein Staat nicht einfach auf Einnahmen verzichten. Eine Regelung, um Steuerdumping im Standortwettbewerb zu vermeiden. Linder verspricht zumindest: „Ich werde nun alle rechtlichen und politischen Möglichkeiten ausschöpfen, um eine Mehrbelastung abzuwenden."
Die Diskussion um Entlastungen der Bürger geht munter weiter und könnte die Ampel-Koalition in weitere Bedrängnis bringen. Dazu wird ein handwerklicher Fehler bei der Energiepauschale für Lindner nun zum Problem. Die Einmalzahlung von 300 Euro im Frühjahr wurde nur sozialversicherungspflichtig Beschäftigten und Selbstständigen ausgezahlt. Rentner oder Studierende gingen leer aus. Arbeits- und Sozialminister Hubertus fordert nun, dass bei den anstehenden Heizkostenhilfen vor allem Rentner, Studierende oder Geringverdiener Unterstützung erhalten sollen, und das nicht als Einmalzahlung, sondern regelmäßig durch eine monatliche Unterstützung, um ihre Rechnung beim Gas- und Stromanbieter begleichen zu können. Auch Bezieher von Hartz IV sollen nicht wieder wie im Frühjahr einmalig mit 200 Euro, sondern mit mindestens 100 Euro monatlich unterstützt werden. Allein die Forderungen des Arbeits- und Sozialministers dürften zusammen nur in diesem Jahr im Bundeshaushalt im zweitstelligen Milliardenbereich zu Buche schlagen.
Für Bundesfinanzminister Lindner würden die Fortführung des 9-Euro-Tickets mit Länderbeteiligung und ein drittes Energie-Entlastungspaket nach den Vorstellungen seiner Kabinettskollegen von SPD und Grünen einen Nachtragshaushalt von mindestens 20 bis 30 Milliarden Euro nötig machen. Dabei sind noch gar nicht die übrigen Forderungen aus den anderen Ressorts der Regierung berücksichtigt.
Landwirtschaftsminister Özdemir (Grüne) steht unter Druck. Land- und Viehwirtschaft leiden erheblich unter den explodierenden Energiekosten, verlangen finanzielle Hilfen von Özdemir, der wiederum das Geld bei seinem FDP-Amtskollegen aus dem Finanzministerium beschaffen müsste. Auch der Handel macht Forderungen geltend. Die Kosten für die Kühlhäuser oder Tiefkühltruhen in den Supermärkten sind dabei nicht das einzige Problem. Bislang wurden die Preissteigerungen direkt an die Kunden weitergegeben, doch auch hier scheint die Schmerzgrenze erreicht. Umfragen und Umsatzzahlen zeigen: Immer mehr Bundesbürger beschränken sich auf das Nötigste, der Trend zu No-Name-Produkten hat derzeit Konjunktur. Und damit steht dann auch die Logistik-Branche auf der Matte. Ohne Lkw keine Produkte in den Supermärkten. Die „Versorger der Nation", wie sich die Spediteure gern selbst bezeichnen, leiden unter den erheblich gestiegenen Spritkosten, auch sie fordern mindestens steuerliche Erleichterungen und planen ebenfalls, wie die Bauern, groß angelegte Proteste in der Bundeshauptstadt im Herbst.
Weil praktisch alle unter der Entwicklung zu leiden haben, ist der Katalog an Forderungen umfangreich. Und viele haben gute Gründe für ihre Forderungen, die auch ein auf Schuldenbremse getrimmter Finanzminister nicht einfach ignorieren kann. In seinem Ministerium wird deshalb schon mal an einem sogenannten Sondervermögen unter dem Stichwort „Energiehilfen" gerechnet. Sondervermögen bedeutet, einen Finanztopf für speziell definierte Aufgaben neben dem eigentlichen Haushalt aufzustellen, so wie es bereits mit dem Milliardenprogramm für die Bundeswehr läuft.
Schmerzgrenze bei Kunden erreicht
In Anbetracht der drohenden sozialen und wirtschaftlichen Verwerfungen durch die Energiekosten wäre dies der einzige Weg für Christian Lindner, um einen Nachtragshaushalt herumzukommen. Das ist für ihn und seinen guten Ruf als Ordnungspolitiker, der ohnehin schon reichlich ramponiert ist, von Bedeutung. Der FDP-Chef will auf keinen Fall als Schuldenminister, sondern als Meister der Schuldenbremse in die Geschichte eingehen. Womit er immer mehr unter Druck gerät in einer Krisensituation als Folge von Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine, in der die Folgen der Pandemie immer noch nachwirken und der globale Handel unter massiven Unsicherheiten leidet. Dazu kommen politische Vorhaben, die die Koalition noch vor dem Krieg vereinbart hat.
Ein großer Brocken ist die Umwandlung von Hartz IV zu einem Bürgergeld. Das solle auf keinen Fall „zu einem Etikettenschwindel geraten", bringt sich die SPD-Co-Vorsitzende Saskia Esken schon mal in Stellung. Also mehr soziale Entlastung und Erhöhung der Hartz-IV-Sätze, die ab Januar 2023 Bürgergeld heißen sollen. Längst ist eine Grundsicherung von monatlich 200 Euro mehr im Gespräch. Derzeit fließt bereits fast ein Drittel des gesamten Bundeshaushalts in Arbeit und Soziales. Mit dem neuen Bürgergeld und den politischen Wünschen und Pflichten des Sozialstaates angesichts der weiterhin drohenden Kostenexplosionen bei Energie und Lebenshaltung wird es für den Bundesfinanzminister schwierig, seine Schuldenbremse einzuhalten. Wenig verwunderlich, wenn auch die Idee für ein weiteres Sondervermögen „Soziales" herumgeistert, das im Haushalt 2023 eingebracht werden könnte.
Aus FDP-Kreisen wird in den letzten Wochen immer wieder berichtet, Lindner soll sich mittlerweile regelrecht grämen, dass er unbedingt auf das Amt des Bundesfinanzministers gedrängt und nicht das Wirtschaftsressort übernommen hat. Dann könnte er heute als Macher glänzen. So aber steht er als Bremser da, der Verständnis für vieles äußert – und gleich dazu sagt, dass er dafür leider kein Geld hat.