Das verbale Einprügeln auf das WM-Land am Golf strotzt vor Doppelmoral
Wir leben in turbulenten Zeiten. Die Gesellschaft ist emotional aufgeputscht. Ressentiments haben Hochkonjunktur, es fehlt an kühler Vernunft. Das zeigt sich auch an der öffentlichen Erregung – vor allem hierzulande – über die Fußball-Weltmeisterschaft in Katar. Tenor: Der Zwergstaat am Persischen Golf sei eine Scheich-Autokratie, wo Menschenrechte mit Füßen getreten werden. Ein Land, dessen Fußball-Tradition so ausgeprägt sei wie etwa die Durchführung von Kamelrennen in Deutschland.
Das verbale Einprügeln auf Katar strotzt vor Doppelmoral. Natürlich gab es gewichtige Gründe gegen die Austragung der Fußball-WM 2022 in Katar. Der Wettbewerb in der Vorweihnachtszeit bringt die Spielpläne vieler nationalen Ligen völlig durcheinander. Und dass ein Wüstenstaat für Milliarden Dollar acht Stadien hochzieht, die danach zu Investitionsruinen werden dürften, passt nicht in unsere vom Klimawandel geprägte Zeit. Der Fokus müsste auf längerer Nutzungsdauer und Nachhaltigkeit liegen.
All diese Gegenargumente hätten aber bereits 2010 bei der Vergabe der WM vorgebracht werden müssen. Wenn einzelne Fußballverbände mit Katar ein Problem haben, hätten sie frühzeitig zum Boykott aufrufen können. Das große Wehgeschrei in diesen Tagen ist nicht konsequent.
Man kann die Situation der Bauarbeiter in Katar kritisieren, sollte aber auch die Fortschritte dort zur Kenntnis nehmen. Noch vor zehn Jahren verdienten die Billiglohnkräfte aus Ländern wie Indien, Bangladesch oder Nepal zwischen 100 und 200 Dollar pro Monat. Sie hausten oft mit zehn oder mehr Männern in einem Zimmer.
2017 wurde erstmals ein Mindestlohn eingeführt – zuletzt betrug er 275 Dollar im Monat. Auch gibt es Schutzzeiten bei hohen Temperaturen, die im Sommer bis zu 50 Grad Celsius betragen können: Von Anfang Juni bis Mitte September darf zwischen 10 und 15.30 Uhr nicht mehr im Freien gearbeitet werden. Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO), eine Einrichtung der UN, hat derlei Verbesserungen ausdrücklich begrüßt.
Zudem gilt zu berücksichtigen, dass die Gastarbeiter oftmals von ihren Familien in den Heimatländern angehalten werden, am Golf anzuheuern. Häufig überweisen sie rund die Hälfte ihres Monatseinkommens zurück an die Angehörigen zu Hause, wo das Elend noch viel größer ist.
In den Wochen vor der Eröffnung der Fußball-WM brandete in Deutschland ein moralischer Furor auf, der sich zu einem regelrechten Katar-Bashing hochschaukelte. Das Land, das wie Saudi-Arabien den Wahhabismus – eine streng konservative Lesart des sunnitischen Islam – zur Religion hat, wurde als mittelalterlicher Kerkerstaat gebrandmarkt.
Dass der Weltfußballverband (Fifa) den Mannschaften untersagte, die One-Love-Armbinde zu tragen, war fast eine Staatsaffäre. Die Schärfe, mit der ge- und verurteilt wurde, hatte etwas von einem Kreuzzug des Säkularismus. Glaubt tatsächlich jemand zwischen Hamburg und München, dass die Regenbogen-Flagge über dem Palast des Emirs von Katar flattern wird? Und braucht es das, um die Fußball-WM zu veranstalten?
Die Wertedebatte, die über Deutschland schwappte, könnte man als Moralimperialismus bezeichnen. Oder, polemisch formuliert: als intellektuellen Kolonialismus. Sind unsere Vorstellungen von gesellschaftlichem Zusammenleben die Blaupause für die Welt?
Als Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) im März Katar besuchte, trat er wie ein Bittsteller auf. Er machte vor dem Handelsminister einen tiefen Diener. Knapp vier Wochen nach Beginn des Ukraine-Krieges waren die Scheichs plötzlich als Lieferanten von Flüssiggas interessant. Habeck sagte nicht: Wir kaufen euer Gas aber nur, wenn ihr unsere Werte annehmt.
Das Naserümpfen in Deutschland über den Golfstaat ist heuchlerisch. Vor der WM 2018 in Russland waren die Fanfaren der Empörung hierzulande kaum zu hören. Vier Jahre nach der Annexion der Krim wurde in Moskau und St. Petersburg munter Fußball gespielt. Dass die russische Luftwaffe damals im syrischen Bürgerkrieg Städte wie Aleppo dem Erdboden gleichmachte: kein Thema.
Wer von der Kanzel der moralischen Überlegenheit in die Welt hineinpredigt, muss sich fragen lassen, welche Messlatte er anlegt. Etwas weniger Selbstgerechtigkeit und etwas mehr Vernunft würden schon helfen.