Ohne Opfer lässt sich die Abhängigkeit von russischem Gas nicht reduzieren
Der russische Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar markiert einen Epochenbruch, dessen Ausmaß und Dauer sich derzeit noch nicht einmal erahnen lassen. Die von Bundeskanzler Olaf Scholz am 27. Februar ausgerufene „Zeitenwende" ist ein Etikett für umfassende tektonische Verschiebungen in Politik, Wirtschaft, Militär und Gesellschaft.
Was das Militär angeht: Die rot-gelb-grüne Regierung liefert entgegen dem Koalitionsvertrag schwere Waffen in ein Kriegsgebiet wie die Ukraine. Eine derart massive Überschreitung der selbstauferlegten Grenzen bei der Rüstungsexportpolitik gab es niemals seit Gründung der Bundesrepublik 1949.
Auch die Wirtschaftspolitik bewegt sich in neuen Größenordnungen. Der Staat schnürt Entlastungspakete im XXL-Format. Er will damit die dramatischen Folgen der westlichen Sanktionen gegen Russland zumindest abmildern. Explodierende Gas- und Strompreise und eine vermutlich bald zweistellige Inflationsrate sorgen für Unruhe in der Bevölkerung. Die Mittelschicht schrumpft, vor allem in der unteren Hälfte grassiert die Angst vor dem Abstieg. Die in der Gesellschaft tief verankerte Erwartung, dass es der nächsten Generation einmal besser gehen werde, ist erschüttert.
Schneller, höher, weiter: Jahrhundertelang waren die westlichen Industriegesellschaften von einem (fast) ungebrochenen Fortschrittsglauben angetrieben worden. Es begann Ende des 18. Jahrhunderts mit der Industrialisierung und der Französischen Revolution. Der technologische und wirtschaftliche Aufschwung entfachte nach dem Zweiten Weltkrieg einen gewaltigen Wachstumsschub.
Der französische Ökonom Jean Fourastié bezeichnete die Zeit von 1946 bis 1975 als „die 30 glorreichen Jahre" für Europa und die Welt – erst die Ölkrise 1973 mit ihren globalen Verwerfungen hat die Wirtschaft auf breiter Front zurückgeworfen. Nach dem Fall der Mauer 1989 breitete sich im Westen eine Euphoriewelle aus. Der US-Politikwissenschaftler Francis Fukuyama sprach vom definitiven Sieg der Demokratie und vom „Ende der Geschichte". Die Globalisierung der Wirtschaft – die weltweite Arbeitsteilung –
werde nur Gewinner produzieren, glaubten viele.
Dabei gab es Warnungen. 1972 veröffentlichte der Club of Rome eine Studie, die weltweit Aufsehen erregte, aber zu keinen Konsequenzen führte. Wenn die Menschheit weiterleben würde wie bisher, so der Experten-Report, wäre mit einem starken Anstieg der Weltbevölkerung zu rechnen. Die Rohstoffvorräte würden in wenigen Jahrzehnten zur Neige gehen, oder ihre Förderung könnte so kostspielig werden, dass sich der Abbau nicht mehr lohne. Die lange stark wachsende Industrie würde dann einbrechen, Umweltverschmutzung den Kollaps weiter beschleunigen. Bis spätestens 2100 wäre eine Katastrophe für die Weltgesellschaft unvermeidbar.
Bereits vor dem Ukraine-Krieg setzte sich zumindest im Westen die Erkenntnis durch, dass ein „Weiter so" mit fossilen Energien und hohem Konsumdrang den Planeten immer näher an den Abgrund bringen könnte. Wetter-Extreme wie Dürren und Überschwemmungen galten als Symptome eines zunehmend zerstörerischen Klimawandels, der jede Konjunkturmaschine früher oder später abbremsen würde.
Die deutsche Wirtschaft, die über viele Jahre durch billiges russisches Gas auf Trab gehalten wurde, muss nun in sehr kurzer Zeit neue Wege gehen. Das bedeutet zunächst, den Import fossiler Energien wie Öl und Gas auf mehr Länder zu verteilen und parallel dazu erneuerbare Quellen wie Solar, Wind oder Biomasse auszubauen.
Aber auch die Bürger stehen in der Verantwortung. Der Staat sollte zwar vor allem den sozial Schwachen unter die Arme greifen oder zum Beispiel auch einen Gas- und Strompreisdeckel für den Grundbedarf einführen. Aber er kann nicht alle finanziellen Belastungen abfedern. Das würde künftigen Generationen eine ungeheure Schuldenlast aufbürden.
Die Gesellschaft – also wir alle – muss die „Zeitenwende" annehmen. Nur die Geschlossenheit des Westens kann die Aggressions- und Imperialismus-Fantasien des russischen Diktators Wladimir Putin stoppen. Die Reduzierung der Abhängigkeit von russischem Gas erfordert Opfer. Eine neue Bescheidenheit tut not. Ist es zu viel verlangt, Energie zu sparen und selektiver einzukaufen, während in der Ukraine Schulen und Krankenhäuser bombardiert werden?