Kaum eine Stadt hat sich in den vergangenen Jahren kulinarisch so rasant entwickelt wie Berlin. In den vergangenen Jahren gab es einen regelrechten Sterneregen, und die Entwicklung dürfte noch lange nicht zu Ende sein. Auch in der Hauptstadt erwartet man gespannt den 1. Dezember, wenn die neuen Michelin-Sterne hier präsentiert werden.
Der Sternenhimmel über Berlin ist gut bestückt. 24 Exemplare vom Guide Michelin hängen aktuell über der Hauptstadt. Sie empfehlen: "Bitte einkehren." Denn die Ein-Sterne-Restaurants, die sie markieren, verdienen "die Beachtung des Lesers"; die Zwei-Sterner bereits einen "Umweg". Die Drei-Sterner schließlich sind "eine Reise wert". So definiert es der Guide selbst. Die Inspektoren testen inkognito und mehrmals, und der Michelin veröffentlicht immer im Spätherbst seine Empfehlungen in dem traditionsreichen roten Gastronomieführer seit immerhin 1966 für Deutschland. Die Gäste zieht es via Buch oder heutzutage vermehrt via Website und Reservierungstool in die 18 derzeit ausgewiesenen Restaurants der Stadt.
Bis zum 1. Dezember, wenn der neue Guide Michelin erstmals im Rahmen eines Gala-Diners in Berlin präsentiert wird, spekuliert die Gastronomie-Szene in der Hauptstadt: Kommt der dritte Stern für Tim Raue? Ist Michael Kempf im "Facil" ebenfalls ein Anwärter? Gibt es einen zweiten für Marco Müller von der "Weinbar Rutz" oder für Markus Semmler? Halten die sechs Zwei-Sterner und die zwölf Ein-Sterner ansonsten ihre Auszeichnungen? Wer steigt auf? Und wer steigt hoffentlich nicht ab? Immerhin hört man aus den berühmten "gut informierten Kreisen" von bis zu 30 neuen Sternen in ganz Deutschland raunen.
Einer, der sich in der Szene auskennt und selbst mehrfach einen Stern erkocht hat, ist Hans-Peter Wodarz, der "Herr der Enten", derzeit mit seinem gastronomischen Varieté-Theater "Palazzo" am Ostkreuz fest verankert. Kolja Kleeberg entwickelte das Menü dafür und steht ebenfalls für langjährige Sterne-Expertise. Hans-Peter Wodarz erwartet für dieses Jahr eine Aufwertung der Hauptstadt durch den Gourmetführer: "Der Guide Michelin täte gut daran, einen dritten Stern in Berlin zu vergeben und die sich stetig in ihrer Leistung steigernde Spitzenküche in der deutschen Hauptstadt zu würdigen." Tim Raue mit seinem gleichnamigen Restaurant in Kreuzberg könne ein Anwärter sein, ebenso wie Hendrik Otto mit dem "Lorenz Adlon Esszimmer".
Wodarz verweist darauf, welche Zugkraft etwa die drei Sterne für Kevin Fehling im Hamburger "The Table" gezeigt hätten: "Davon profitieren alle anderen Spitzengastronomen in einer Stadt." Ein Stern lockt die Feinschmecker mindestens aus der Region oder die Besucher, die ohnehin in der Stadt sind. Ab zwei Sternen wird die Warteliste für einen Tisch noch länger, und internationale Feinschmecker setzen die Restaurants und Städte durchaus allein schon deswegen auf ihre Reiselisten.
Gerüchte von bis zu 30 neuen Sternen in ganz Deutschland
Derzeit gibt es doppelseitige Tabellen, persönliche Favoritenlisten, Gespräche in Fachkreisen. Die Zahl der Restaurants in Berlin wächst und wächst und wächst seit Jahren und damit auch deren Qualität und präzise Positionierung. "Wir erleben gerade einen Gründerboom", sagt Wodarz. "Junge talentierte Köche, die früher noch eine Station bei anderen Spitzenköchen eingelegt hätten, eröffnen ihr eigenes Restaurant."
Auch jüngere Sommeliers oder Gastgeber setzen gemeinsam mit ihren Koch-Kollegen in den Lokalen ihre Vorstellungen von außergewöhnlichen Geschmackserlebnissen, hervorragender Produktqualität, ausgesuchten Getränken und Werten wie Regionalität und Nachhaltigkeit um. So verwundert es nicht, dass in der Gerüchteküche als Anwärter auf einen ersten Stern genau solche Anfangs- bis Mittdreißiger gehandelt werden.
Sprechen wirs also aus, wovon die Kolleginnen und Kollegen von "EssPress" bis "Tagesspiegel", vom "Feinschmecker" bis "radioeins" und die vielen anderen Fachkollegen munkeln: Das "einsunternull" von Ivo Ebert und unter der kulinarischen Regie von Küchenchef Andreas Rieger hätte seit gut einem Jahr genügend Zeit gehabt, sich mit seiner streng regionalen, reduzierten und entdeckungsfreudig "befreiten" Küche sternenwürdig einzugrooven. Beinah ebenso lang ist Christopher Kümper im "Schwein" in Mitte Küchenchef. Seine asiatische und internationale Erfahrung schmeckt in jedem Blutwurst-Dumpling in Dashi-Brühe und in ähnlichen Kreationen durch. Gal Ben Moshe bringt als Küchenchef seines Restaurants "Glass" im silberverkleideten Küchenwürfel die Aromen des Orients auf eine leichte, höchst europäisch-filigrane Art zum Tanzen. Sollte die Nähe zur französischen Küche ausschlaggebend sein, empfähle sich auch das "Le Faubourg" mit Felix Mielkes unorthodoxem Spagat zwischen "Klassikern" und "modernen" Interpretationen. Auch die Namen Manuel Schmuck vom "Marthas" oder Florian Glauert vom "Duke" im Ellington Hotel sind zu vernehmen.
Oder hat Max Strohe mit dem "Tulus Lotrek" in diesem Jahr schon die Nase ganz vorn dabei? Ebenfalls erst seit einem Jahr am Start, hat seine aromenstarke, unerschrockene Küche ihn erst Anfang Oktober zum "Aufsteiger des Jahres" bei den "Berliner Meisterköchen" werden lassen. Oder wird ihm noch ein Jahr unbesternte Zeit gegönnt?
Immerhin bedeuten die "Aufsteiger"-Auszeichnung und die damit verbundenen rühmlichen Pflichten, das kulinarische Berlin ein Jahr lang im In- und Ausland mit zu vertreten, eine Menge Aufwand. Repräsentiert und kocht der Küchenchef andernorts, muss das "Uhrwerk" in der eigenen Küche unverändert präzise ticken. Die Gäste im eigenen Restaurant wollen allabendlich zufriedengestellt und umsorgt werden. Gerade die recht frischen, jungen Gastronomen stellt das logistisch, personell und wirtschaftlich vor große Herausforderungen, die es in beständig hoher Qualität zu bewältigen gilt.
Diejenigen, die sich der Aufgabe stellen, ein erstklassiges Restaurant zu führen, stecken schließlich Tag für Tag ein enormes Maß an Arbeit, Geld, Kreativität, Zeit und Herzblut hinein. Dennoch bleibt High-End-Gastronomie stets auch ein wirtschaftlicher Balanceakt. Spitzenköche können diesen unter den Fittichen einer Hotelkette im Zweifelsfall besser bewältigen als diejenigen, die auf eigenes Risiko arbeiten: "Ich weiß das Privileg unter einem Hoteldach zu arbeiten und bei den Produkten aus dem Vollen schöpfen zu können, sehr zu schätzen", sagt Alexander Koppe, Küchenchef in der "Skykitchen" im Andels by Vienna House-Hotel in Lichtenberg. "Ich ziehe den Hut vor all den Kollegen, die selbstständig das Risiko tragen." Das mit einem Stern ausgezeichnete Restaurant im zwölften Stock profitiert von den Synergien der unterschiedlichen Restaurants und Küchen in einem Haus. Vielleicht geht es bald noch höher hinaus? Die "Skykitchen" wird wegen kontinuierlicher Steigerung der Leistung durchaus als Anwärter für einen zweiten Stern gehandelt.
Wirtschaftlicher Balanceakt
Ganz gleich, ob der Stern überraschend kam oder ob ordentlich darauf hingeschielt wurde: Verlieren möchte ihn niemand. In jedem Fall gilt es, beherzt den Druck wegzudenken und das weiterzuverfolgen, wofür man angetreten ist. So sieht es etwa Billy Wagner, Wirt des "Nobelhart & Schmutzig", das gerade mal neun Monate nach der Eröffnung im vergangenen November mit einem Stern versehen wurde. "Wir machen genau das weiter, was wir schon vorher gemacht haben", sagt er. "Nur versuchen wir, es noch besser zu machen."
Die Küche unter der Regie von Micha Schäfer, in enger Kooperation mit möglichst lokalen und nachhaltigen Erzeugern sowie einem starken Fokus auf Gemüse, ist eben eine Küche, die erst einmal vieles anders macht als so manches, was in Berlin üblicherweise Anerkennung fand. Den Inspektoren, den stets inkognito speisenden und wechselnden Restauranttestern des Guide Michelin, gefiel es jedenfalls. So mag die kleine, rohe Karotte mit Kamillenöl und extrem fetter Rohmilch-Sahne als "Aufstrich" zunächst einmal in ihrer Eigenständigkeit verblüffen. Sie macht aber deutlich, wie ernst es dem Team damit ist, durch die hohe Qualität der Einzelbestandteile ein "extrem gutes Essen" herzustellen. So wird ganz nebenbei auch ein althergebrachtes Verständnis von "Luxus" umgestoßen. Produktqualität und -kenntnis, Zeit, Platz und Service zählen heute, nicht primär silberne Glocken, Tischtücher und steifes Benehmen.
Streng genommen gibt es den "Sternekoch" gar nicht, wie der Guide Michelin auf seiner Website schreibt: "Michelin zeichnet nicht einzelne Köche aus, sondern Restaurants, denn Kochen auf Sterne-Niveau ist ein Mannschaftssport. Dennoch spielt der Küchenchef als Kapitän der Mannschaft eine besondere Rolle. Wenn ein Küchenchef also von einer Sterne-Adresse in ein anderes Haus wechselt, kann er die Auszeichnung nicht mitnehmen. Ein Küchenchef ist also nur ein Sternekoch, solange er in einem Restaurant mit einem, zwei oder drei Michelin-Sternen tätig ist." So erklärt sich, weshalb in Berlin unlängst zwei Sterne vom Firmament verschwunden sind: Das "Vau" von Kolja Kleeberg schloss nach Umfirmierung und kurzfristig veränderten Mietkonditionen Ende September seine Pforten. "Klar, ich hätte schon gerne zum zwanzigsten Mal in Folge einen Stern erhalten und im Februar im Vau das zwanzigste Jubiläum gefeiert", sagt Kolja Kleeberg, der immerhin das "älteste" Berliner Ein-Sterne-Restaurant führte. Aber jeder weiß, dass die Qualität, für die Kleeberg steht, auch weiterhin in seinen Gerichten und Aktivitäten steckt. Sei es das entenzentrierte "Palazzo"-Menü, das bei 350 Plätzen im Spiegelzelt unter großgastronomischen Bedingungen funktionieren muss, oder seien es exklusive Kochkurse. Das "First Floor" im Palace Hotel schloss wegen Umbaus im Dezember 2015 seine Pforten und ist deshalb nicht mehr gelistet. Es soll aber 2017 mit neuem Konzept und neuem Küchenchef wieder eröffnen. Auch Roel Lintermans hat das "Les Solistes" im Waldorf Astoria Anfang November verlassen. Sein bisheriger Souschef Thomas Leitner übernahm die Leitung kommissarisch, der Stern dürfte in der neuen Ausgabe nicht mehr dabei sein.
Überraschungen sind stets möglich
Letztlich sind alle Spekulationen dennoch nur Spekulationen. So wie im vergangenen Jahr das "Bandol Sur Mer" mit französischer Küche im bescheidenen Ex-Dönerbuden-Rahmen und das "brutal lokale" "Nobelhart & Schmutzig" einen Stern erhielten, weiß niemand vorher, welche Überraschungen sich die Inspektoren und Chefredakteure des Guide Michelin vorbehalten. Auch wenn sich Hans-Peter Wodarz eine Art "Michelin-Leaks" wünscht und sich am liebsten einmal vorab in der Druckerei einschließen lassen würde, ist es nicht nur im Sinne der Legendenbildung gut, dass es genau so läuft wie es läuft. Immerhin sorgen dieser Nervenkitzel und die Anspannung dafür, dass Restaurantbesitzer und Küchenchefs das ganze Jahr über ihre Leistungen auf beständig hohem Niveau halten. Ganz gleich ob Stern oder Nicht-Stern, ob Asia- oder Bistrot-Küche, Casual oder Fine Dining, "Nose-to-Tail" oder Gemüse eine richtig gute Küche mit herausragenden Geschmackserlebnissen finden alle Gäste gut. Und für sie tritt jeder Koch mit seinen Kreationen schließlich zuallererst an.
Von Ute Schirmack