Populisten und autoritäre Systeme bringen westliche Demokraten zeitweise zur Verzweiflung. Kommt Charisma dazu, können populistische Ideen sogar Wahlen gewinnen, wie sich in den USA zeigte. Die Wechselwirkung zwischen Populismus und Charisma erklärt Organisationspsychologe Prof. Dr. Jan Schilling.
Herr Professor Schilling Obama, Erdogan, Macron und Trump man könnte den Eindruck gewinnen, es gäbe heute deutlich mehr charismatische Politiker auf der Weltbühne als zuvor. Ist dieser Eindruck falsch?
Ich denke, es ist eine subjektive Wahrnehmung, dass es mehr charismatische politische Führer auf der Welt gibt. Es ist schwer, objektiv zu beantworten, wer überhaupt als charismatisch angesehen wird. Allgemein kann man sagen, es gibt eine größere Sehnsucht, ein größeres Bedürfnis nach einer solchen Art von Führung. Als Nebeneffekt sieht man in manchen Personen eine Besonderheit im Charakter oder im Verhalten, die man dann als charismatisch wahrnimmt.
Woher kommt diese Sehnsucht?
Es gibt Umfragen, die zum Ergebnis haben, dass sich die Befragten einen starken Mann, eine starke Frau wünschen, die Dinge regeln, ohne auf die Streitigkeiten im Parlament zu achten; die einfach tun, was "für das Volk am besten ist". Dinge sollen schnell und einfach entschieden werden, was der Komplexität vieler Themen und Probleme aber leider nicht angemessen ist.
Der Soziologe Larry Diamond nennt das "Demokratie-Rezession", ausgelöst durch die zahlreichen Krisen in den vergangenen zehn Jahren.
Ja, gewissermaßen ist dies auch eine Beschreibung einer Diktatur, die in diesen Umfragen manche Menschen gar nicht für so erschreckend halten. In autoritären Systemen scheint alles schneller zu gehen, es wird rasch entschieden und nicht lange darüber geredet. Das Missverständnis liegt darin, dass, wenn es jenen einen genialen Anführer gäbe, diese Entscheidungen auch vernünftig und im besten Sinne getroffen würden. Tatsache aber ist, dass autoritäre Systeme nur so gut sind wie ihr jeweiliges Führungspersonal. Fehler und Schwächen des Einzelnen drücken sich direkt in den Entscheidungen aus. Und dabei betrachten wir noch nicht einmal die Gefahren solcher Systeme in Bezug auf Machtmissbrauch. Übertragen auf die Globalisierung bedeutet diese Sehnsucht, dass es angesichts der wachsenden Komplexität einen Wunsch nach Vereinfachung jenseits von schwierigen Kompromissen gibt.
Vereinfachung, das ist das Prinzip des Populismus. Gibt es eine Verbindung zwischen charismatischen Führern und den "einfachen Antworten" des Populismus?
Nicht automatisch. Es kommt darauf an, ob es demjenigen mit den einfachen Lösungen gelingt, ein bestimmtes Bild von sich zu transportieren. Die Wahrnehmung von Charisma ist subjektiv und hängt von bestimmten Faktoren ab. In Krisenzeiten ist die Chance größer, diese Merkmale bei bestimmten Personen wahrzunehmen. Wir sehen, dass Populisten Probleme oft als fundamentale Staatskrise ansehen. Dadurch schaffen sie also gute Vorbedingungen, um auch als Charismatiker wahrgenommen zu werden: Wenn es gleichzeitig gelingt, zu zeigen, dass mit ungewöhnlichen Mitteln gegen die Konventionen angegangen wird, hilft auch das dabei, Charisma zugeschrieben zu bekommen. Dazu werden konventionelle Systeme der Problemlösung als nicht mehr funktionsfähig beschrieben. Siehe die "Altparteien" in der Sprache der AfD. Außerdem wird ein Opfermythos aufgebaut, der suggeriert, man müsse alle möglichen Widerstände überwinden. Man kann also sicher mit Elementen des Populismus spielen, um als charismatisch wahrgenommen zu werden.
Sehen Sie erfolgreiche deutsche Charismatiker derzeit in der Politik?
Tatsächlich nein. Nehme man zum Beispiel die beiden Kanzlerkandidaten: Beiden wird nicht unbedingt von vielen ein großes Charisma zugeordnet. Es gibt niemanden, der derzeit in dieser Hinsicht besonders herausragt. Persönlich würde ich sagen, die letzte politische Figur in Deutschland, der viele Personen besonderes Charisma zuschrieben und der man viel zutraute, war Karl Theodor zu Guttenberg. Das muss man nicht teilen, kann aber schon feststellen, dass solche Tendenzen in der Öffentlichkeit zu beobachten waren, natürlich bevor er über die Plagiatsaffäre stolperte. Ähnlich erging es aber auch dem Charismatiker Obama, dessen Aura durch den Alltagsschock politischer Realitäten stark schrumpfte.
Liegt dies vielleicht auch an den unterschiedlichen politischen Systemen, der deutschen Parteiendemokratie versus dem amerikanischen, französischen und künftig türkischen Präsidialsystem?
Nicht unbedingt. Auch in Deutschland wird heute deutlich mehr Politik über Personen transportiert als in den vergangenen Jahrzehnten, nehmen Sie Angela Merkels Slogan "Sie kennen mich" im letzten Wahlkampf. Vielleicht ist Deutschland auch aus historischen Gründen nüchterner, was bestimmte Wahrnehmungen angeht, vielleicht waren bisher nicht die richtigen Personen dabei. Sicherlich ist richtig, das bestimmte Systeme, wie Frankreich oder die USA mit der herausgehobenen Stellung des Präsidenten, bessere Chancen und Voraussetzungen für charismatische Führung bieten als das deutsche politische System, sich als Macher, als Person mit besonderen Talenten zu präsentieren. Dort sind diese Einzelpersonen politisch besonders wichtig, um Politik umzusetzen, deutlich mehr als die auf Kompromisse und Konsens ausgelegte deutsche Parteiendemokratie.
Gibt es auch negatives Charisma?
Negatives Charisma, da sind wir schnell im Bereich Narzissmus, einer übergroßen Betonung der eigenen Grandiosität, die auch auf andere ausstrahlen kann. Über die destruktive Wirkung, die solche Personen in Organisationen und Systemen entfalten können, hat die Forschung schon vielfältig Aufschluss gegeben. Bei solchen Personen kann man durch Komplimente und Anerkennung der Großartigkeit dieser Person oft einiges erreichen.
Welche Auswirkungen haben charismatische Führer auf ihre Partei?
Es gibt immer Hoffnungen und Sorgen, die mit Charisma verbunden werden. Ein Charismatiker kann den Menschen sehr viel Energie, Begeisterung, Engagement und Motivation verleihen, für ihn selbst oder für die Sache, für die er steht. Das ist die Hoffnung vieler. Die Sorge, die damit verbunden ist, besteht darin, dass Nähe zu dieser charismatischen Person hergestellt werden muss, um Entscheidungen im eigenen Sinne zu beeinflussen. Eine Partei tritt also immer hinter einem Charismatiker zurück. Sollte dieser irgendwann entzaubert werden, aus welchen Gründen auch immer, wird die Organisation oder Partei ebenfalls Probleme bekommen. Denn zuvor war alles auf diese Person ausgerichtet, diese Leerstelle muss mit einem Nachfolger gefüllt werden, der das Erbe antreten kann.
Welche Gefahren sehen Sie darin?
Die Hauptgefahr ist, dass ein Charismatiker personalisierte Macht ausübt, alles ist auf ihn oder sie ausgerichtet, um zu wirken und zu glänzen. Das heißt, die Irrtümer und Schwächen dieser Person können zu Schwächen des gesamten Systems werden, wenn das System, die Organisation auf diese eine Person ausgelegt ist. Eine falsche Entscheidung kann aufgrund der angeblich besonderen Talente, die von anderen dem charismatischen Führer zugeschrieben werden, übersehen werden. Oder man traut sich einfach nicht, den Fehler offen auszusprechen. Mittel- bis langfristig kann dies Schaden verursachen, wenn die Organisation rund um den Charismatiker denkt, er oder sie wird es schon irgendwie richten.
Eine besondere Gefahr personalisierter Macht ist autoritäres Führen. Welche Vorteile sehen Sie darin?
Klassischer Vorteil ist das schnelle Reagieren, die Entscheidung ohne lange Abstimmungsprozesse. Bestimmte Personen, und dazu gibt es Forschung, bevorzugen durchaus auch eine autoritäre Führung, sind nicht an langen Gesprächen und Absprachen interessiert, wollen lieber selbst keine Verantwortung übernehmen, sondern sich führen lassen.
Führt Populismus automatisch zu Autoritarismus?
Es gibt sicherlich Tendenzen. Wenn wir populistische Bewegung verstehen als eine Gruppierung, die eine Idee davon hat, wie man ein Problem einfach, schnell und radikal löst, wird sie diese Lösung wahrscheinlich nicht im Konsens mit anderen Gruppen und Lösungsvorschlägen durchsetzen können. Gerade die Radikalität der "Lösung" schreckt andere ab. So bleibt der Bewegung nur der Versuch, diese autoritär durchzusetzen. Nach dem Motto: "Manche müssen zu ihrem Glück gezwungen werden."
Interview: Falk Enderle
Info:
Charisma ist zunächst nur eine Wahrnehmung. Einer Person wird vom Umfeld eine Ausstrahlung zugeschrieben, der Stärke, Kraft, eine besondere Begabung innewohnt. Dieser Person wird dann das Talent zugeschrieben, Probleme zu lösen und andere Personen zu führen. In der Forschung wird zwischen positiver und negativer Seite des Charismas unterschieden. Charismatische Führung kann in hohem Maße zu einer Belebung, zu einer Identifikation von Personen mit den Zielen der Führung beitragen. Es kann aber auch in einer Art Personenkult und Abhängigkeit von dieser Person münden. Ebenso unterscheidet die Forschung Charisma bezogen auf eine Person oder ein Ziel, für das der Charismatiker steht.
Prof. Dr. Jan Schilling
Zur Person:
Prof. Dr. Jan Schilling ist seit 2009 Professor für Arbeits- und Organisationspsychologie an der Kommunalen Hochschule für Verwaltung in Niedersachsen in Hannover. Er promovierte im Bereich subjektive Führungstheorien an der RWTH Aachen. In den letzten Jahren forscht Prof. Schilling zu den Themen destruktive und inkonsistente Führung, organisationaler Zynismus von Mitarbeitern und organisationales Lernen aus Fehlern.
Info:
Michelle Obama kämpfte für gesünderes Essen an US-Schulen, bis dies in Gesetzesform vorlag. Die aktuelle US-Regierung kippte das Gesetz mit der Begründung, die Kinder sollten wieder mit "mehr Begeisterung" essen.
Arbeitnehmer sollten gemeinsam gegen einen Arbeitgeber klagen dürfen, damit das finanzielle Risiko einer solchen Sammelklage geringer sei. Das Gesetz aus der Obama-Ära, das derzeit vor dem Obersten Gerichtshof verhandelt wird, wird nicht mehr von der aktuellen US-Regierung unterstützt.
Den Klimaschutzplan Obamas ließ Trump per Dekret zurückdrehen. Außerdem stieg der US-Präsident aus dem als historisch angesehenen Pariser Klimaschutzabkommen aus.
Windkraft und Solarenergie kommen im Vokabular der Trump-Administration nicht mehr vor, stattdessen Atomkraft, Kohle, Öl und Gas, vor allem die fossilen Reserven, die auf bislang unerschlossenem Bundesterritorium zu finden sind. Trump will mehr Energie in den USA produzieren und exportieren, zum Beispiel Flüssiggas.
Die Umweltschutzbehörde EPA ließ Trump personell und finanziell entkernen und mit Wirtschaftslobbyisten besetzen. Derzeit arbeitet sie an einer industriefreundlichen Variante eines Wasserschutzgesetzes, das unter Obama aufgelegt wurde.
Die sogenannte Volcker-Regel, das Verbot des Eigenhandels der US-Banken als Lehre aus der schweren Finanzkrise von 2008, soll nach Vorgaben des US-Präsidenten überprüft und gegebenenfalls wieder zurückgenommen werden. Der Bankensektor sei sowieso überreguliert, so Trump.
Obamas Gesundheitsreform hat erhebliche Schwächen, aber sie versicherte Millionen Kranke im Land. Trump interpretierte die Schwächen so, als sei Obamacare eine Totgeburt, und versprach bessere Versorgung bei noch weniger Kosten. Danach sieht der aktuelle Gesetzentwurf nicht aus.
POLITIK
picture alliance/AP Images
Der Wunsch nach Vereinfachung
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