Männer und Frauen werden unterschiedlich krank und brauchen entsprechende Behandlung. Gendermediziner suchen nach passenden Formen für Prävention, Diagnostik und Therapie. Die größte Herausforderung aber gilt es im Kopf zu bewältigen.
Stellen Sie sich vor, Sie gehen zum Einkaufen und sehen, wie ein Mann umkippt. Wahrscheinlich werden ein paar Umstehende zu ihm hinlaufen, irgendjemand wird sein Handy zücken und den Notarzt rufen. Der Mann wird vermutlich direkt untersucht, vor allem am Herz. Könnte ja ein Herzinfarkt sein. Stellen Sie sich noch einmal vor, Sie gehen zum Einkaufen und sehen, wie eine Frau umkippt. Sicher werden auch hier einige Umstehende hinlaufen, ihr vermutlich einen Schluck Wasser reichen, vielleicht hat jemand noch ein Stück Traubenzucker dabei. Ein Dritter hält ihr die Füße hoch bestimmt der Kreislauf."
Anhand dieses Beispiels erklärt Margarethe Hochleitner, Professorin für Gendermedizin an der Universität in Innsbruck, wie unterschiedlich wir auf die gleichen Symptome bei Mann und Frau reagieren. In unseren Köpfen sind bestimmte Krankheiten fest mit Geschlechtern verankert und das oft zu unrecht. Herzkrankheiten, so Hochleitner, sind männlich besetzt. Und das, obwohl laut aktuellem Bericht der deutschen Herzstiftung mehr Frauen als Männer an Herzkrankheiten sterben. Mit solchen Unterschieden bei Krankheiten und Symptomen befasst sich die sogenannte Gendermedizin. "Wir beschäftigen uns damit, ob und inwiefern Frauen und Männer unterschiedlich erkranken", erklärt Hochleitner. "Männer- und Frauenkörper sind unterschiedlich. Es gibt die Sex-Unterschiede wie die Chromosomenanzahl oder die Hormone. Wir leben aber auch unter verschiedenen Bedingungen, es gibt soziale und kulturelle Unterschiede. Daraus resultieren verschiedene Probleme im Gesundheitssystem. Die Frage ist, wo wirken sie sich aus und wie müssen wir mit unseren medizinischen Angeboten darauf eingehen?"
Je länger Forscher sich damit befassen, desto mehr Unterschiede stellen sie fest. Die Tatsache selbst, dass Frauen und Männer unterschiedlich erkranken, sei aber kein neues Wissen. "Wir wissen schon sehr lange, auch lange vor der Gendermedizin, dass die meisten Krankheiten in unterschiedlicher Häufigkeit bei Männern und Frauen auftreten. Migräne, Autoimmun-Erkrankungen wie Lupus erythematodes, Schilddrüsen-Erkrankungen und Osteoporose sind beispielsweise alles Krankheiten, die überwiegend Frauen betreffen. Und auch die statistischen Zahlen zeigen, dass es unterschiedliche Verteilungen gibt", betont Hochleitner.
Konsequenzen für medikamentöse Therapien
Aber nicht nur in der Häufigkeitsverteilung, sondern auch in der Diagnostik können sich die Geschlechter unterscheiden. Bei Diabetes beispielsweise reicht es für Männer vollkommen aus, den Blutzuckerwert im Auge zu behalten. Frauen sollten zusätzlich ihre Glukosetoleranz testen lassen, auch wenn das mehr Aufwand bedeutet. Bei ihnen kann die Fähigkeit, Zucker aus dem Blut in die Zellen zu schleusen, schon gestört sein, wenn die Blutzuckerwerte noch normal aussehen. "Wir haben nicht nur bei Diabetes, sondern auch bei einigen anderen Krankheiten festgestellt, dass die Untersuchungsmethode für ein Geschlecht funktioniert, beim anderen aber Wünsche offen lässt. Viel dramatischer als bei Diabetes ist es beim Herzen, weil das noch viel mehr Menschen betrifft. Ergometrie funktioniert zum Beispiel als Screening-Methode für Männer hervorragend, für Frauen aber nicht. Trotzdem wird es bei allen Herzpatienten angewendet. Solche Dinge versucht die Gendermedizin aufzuzeigen", erklärt die Innsbrucker Forscherin.
Die Herz-Forschung nützt besonders den Frauen, umgekehrt verhält es sich zum Beispiel bei Brustkrebs. Bei Frauen gibt es gängige Vorsorge, aber kaum ein Mann wird daraufhin untersucht. Dabei, so erklärt es Hochleitner, sei das derselbe Krebs. Ein Drüsenkrebs, sogar an derselben Stelle. Auch wenn im Verhältnis ein Mann zu hundert Frauen betroffen ist, so sei das für Patienten doch ein schwacher Trost. Die Folge: Männer haben oftmals deutlich schlechtere Prognosen, weil ihre Erkrankung zu spät entdeckt wird.
Unterschiede auch bei Tierversuchen beachten
Ebenso als typische Frauenkrankheit in den Köpfen verankert ist Osteoporose. "Wenn wir Frauen fragen, welche Untersuchungen sie als nützlich erachten, sagen drei Viertel aller Frauen ab 45 Jahren: Knochendichtemessung. Manche würden am liebsten drei- oder viermal im Jahr kommen. Bei Männern verhält sich das ganz anders. Ich habe 15 Jahre lang eine private Männerstation geleitet. Nicht einmal ein Hypochonder wäre auf die Idee gekommen, Osteoporose zu haben", erzählt Hochleitner. Doch auch Männerknochen sind nicht davor gefeit, brüchig zu werden. Alter, Umwelteinflüsse, Medikamente wie Kortison all das wirke sich aus. Vom Herz über Diabetes bis hin zu Depressionen oder Krebs bei zahlreichen Krankheitsbildern stellen die Forscher Unterschiede fest.
Das hat auch Konsequenzen für die medikamentöse Therapie. Doch da lauert das nächste Problem. Bis in die 1990er-Jahre wurden Medikamente ausschließlich an Männern getestet. In der berühmten Aspirin-Studie galt "Frau-Sein" sogar als Ausschlussgrund für die Teilnahme. Medikamente wurden getestet, zugelassen und trafen bei den Nebenwirkungen besonders Frauen. Das hat mehrere Gründe. Zum einen wurde eben das weibliche Geschlecht bei den Tests nicht beachtet. Zum anderen hätten Frauen im Vergleich zu Männern ein hinaufgeschaltetes Immunsystem und wären deshalb öfter von Nebenwirkungen betroffen, schildert Hochleitner. Und Frauen würden Nebenwirkungen öfter melden. Bei Männern sei das immer noch ein Maskulinitäts-Problem: Dürfen sie jammern, Schmerzen haben, Nebenwirkungen melden? Die Forscher vermuten daher, dass Männer Nebenwirkungen auch seltener angeben.
"So etwas wie die Aspirin-Studie sollte heute erledigt sein. Womit wir immer noch ein Problem haben, ist die Anzahl der Probanden. Die amerikanische Zulassungsbehörde fordert beispielweise, Medikamente nicht an der Hälfte oder einem Mindestprozentsatz an weiblichen Probanden zu testen, sondern das von der jeweiligen Krankheit abhängig zu machen. Wenn eine Krankheit zu 80 Prozent bei Frauen auftritt, sollten bei den Versuchspersonen auch 80 Prozent Frauen sein", fordert Margarethe Hochleitner.
Theoretisch wäre auf dem Gebiet der Medikamententests zwar schon einiges geschehen, in der Praxis aber blieben Wünsche offen. Das zeigten auch die Skandale der vergangenen Jahre. "Bei den letzten zehn Medikamenten, die nach der Zulassung zurückgezogen wurden, geschah das bei acht Medikamenten aufgrund von Unverträglichkeiten bei Frauen. Ein recht aktueller Fall ist das Schlafmittel Zolpidem, das für Frauen zunächst zu hoch dosiert wurde."
Sind Frauen also das leidtragende Geschlecht einer unterentwickelten Forschung? "Nein", sagt Hochleitner. "In der Gendermedizin geht es nicht wie in der Frauengesundheitsbewegung ausschließlich darum, für Frauen bessere medizinische Angebote zu schaffen. Gendermedizin versucht, die Unterschiede aufzudecken und dann in Prävention, Diagnose und Therapie einzubauen. Aber es kann ja nicht heißen, unsere Medizin basiert auf Evidenz, wenn wir das für Frauen nie untersucht haben."
Mehr noch sieht die Professorin und Medizinerin die Gendermedizin als Vorreiter für das, was immer mehr Patienten wollen: eine personalisierte und individualisierte Medizin, passgenau auf den Erkrankten und seine Probleme zugeschnitten. Wenn man in der Lage ist, die Menschen und ihre Krankheiten nach Geschlecht zu differenzieren, sei das ein erster Schritt.
Besonders aktuelle Fragen sind laut Margarethe Hochleitner zum einen die Immuntherapie für Krebspatienten. Früher habe es immer nur operieren, bestrahlen und die Chemotherapie gegeben. Weil sich die Immunsysteme der Geschlechter aber unterscheiden, könne die Immuntherapie die onkologische Therapie deutlich verbessern.
"Deutschland hinkt bei der Ausbildung hinterher"
Ein weiteres brennendes Thema seien Tierversuche. Denn Medikamente starteten ja nicht erst in klinischen Studien, sondern oft bei Mäusen. "Bei Mäusen ist es nach wie vor so, dass meist nicht einmal das Geschlecht der Versuchstiere angegeben wird. Fast alles, was in der Vorbereitung für die Medikamenten-Entwicklung passiert, wird an männlichen, jungen Mäusen untersucht. Wir glauben schon, dass die Medikamente für Frauen auch an weiblichen Tieren untersucht werden sollen. Das ist natürlich ein Kostenproblem: Die weiblichen Mäuse haben wie Frauen einen Zyklus und damit einen schwankenden Hormonspiegel. Man muss also bei Untersuchungen mit ihnen die Hormone bestimmen und entsprechend verrechnen. Das ist viel teurer und aufwändiger, als den recht konstanten Hormonspiegel der männlichen Mäuse zu nutzen. Das heißt, für die Pharmafirmen kostet es nicht nur mehr, sie haben auch das Risiko, dass andere schneller sind und die eigene Arbeit am Ende umsonst war", macht Hochleitner deutlich.
Fortschritte in der Forschung sind eine Sache, aber wie gelangt die Gendermedizin in die Kliniken, Arztpraxen und Universitäten? Das "Deutsche Ärzteblatt" hat Anfang Januar eine Umfrage veröffentlicht, aus der hervorgeht, dass Gendermedizin im deutschen Medizinstudium völlig unterrepräsentiert ist. "Deutschland hinkt bei der Integration von geschlechterspezifischer Medizin bei der medizinischen und zahnmedizinischen Ausbildung im internationalen Vergleich hinterher. Derzeit erfüllt nur eine einzige Fakultät alle Kriterien für eine ausreichende Integration", heißt es darin.
"Ein Problem ist die freie Gestaltung des Curriculums. Punktuell gibt es Angebote an der Berliner Charité oder in Münster etwa. In Würzburg gibt es nicht nur für die Medizin, sondern für die gesamte Universität ein Genderprogramm. Da geschieht schon etwas. Aber ich glaube, man müsste Gendermedizin als Pflichtfach einbauen und in der Semesterprüfung anteilig abfragen", schlägt Hochleitner vor.
Verstärkte Lehre an den Universitäten ein erster Schritt, um das Wissen der Gendermedizin zu etablieren. Für die niedergelassenen Ärzte bräuchte man Richtlinien, findet Hochleitner. "Es ist ein großes Problem, wenn die Richtlinien für verschiedene Krankheiten nicht nach Geschlecht unterteilt werden. 55 Prozent der Herztoten in Europa sind Frauen. Trotzdem gibt es keine Guidelines, die Frauen und Männer getrennt behandeln."
Gerade arbeite sie an einem von der EU subventionierten Projekt unter Führung der Berliner Charité, bei dem es um eben solche Richtlinien gehe. Im September dieses Jahres sollen sie veröffentlicht werden. Hochleitner lacht: "Es gibt also Lichtblicke".
Laura Kutsch
Zur Person:
Prof. Dr. med. Margarethe Hochleitner, geboren 1950, ist Professorin für Gendermedizin und Fachärztin für Innere Medizin. Sie ist außerdem die Direktorin des Frauengesundheitsbüros und Leiterin der Koordinationsstelle für Gleichstellung, Frauenförderung und Geschlechterforschung der Universität Innsbruck. Auch auf internationaler Ebene setzt sie sich für Frauengesundheit ein, etwa als Mitglied des Board of Directors des ICOWHI (International Council of Womens Health International) und als Head of Scientific Committee MWIA 2016 (Medical Womens International Association). Das Europäische Institut für Gleichstellungsfragen zählte sie 2013 zu den "Women Inspiring Europe".