Stress hat in unserer Gesellschaft einen schlechten Ruf, zu viel davon macht krank. Einige Experten behaupten allerdings, ein gewisses Maß an Anspannung könne auch gesund und glücklich machen.
Es war Hans Seyle, der Vater der Stressforschung, der den berühmten Ausspruch tat, wonach Stress "die Würze des Lebens" sei. Der gebürtige Wiener war 1934 nach Kanada ausgewandert und verwendete den Begriff "Stress" erstmals zwei Jahre später in einer medizinisch-wissenschaftlichen Publikation. Schon Seyle unterschied auch zwischen positivem Stress, Eustress genannt, und negativem Stress, Distress. Auf seinen Spuren wandelt denn auch im Wesentlichen der Wissenschaftsjournalist Urs Willmann, der in seinem neuen Buch "Stress ein Lebensmittel" das häufig in der Gesellschaft als großes Übel empfundene Gefühl als "Würze des Alltags" bezeichnet hat. Stress, sprich positiver Stress, so seine Kernthese, mache uns "gesund, glücklich und stark, er verlängert das Leben".
Eine scheinbar paradoxe Behauptung angesichts der hohen Belastungen und ständig steigenden Anforderungen, denen sich immer mehr Menschen am Arbeitsplatz ausgesetzt fühlen. Dies wird seit Ende der 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts immer wieder in Neuauflagen des "Stressreports Deutschland" öffentlich gemacht. In der letzten Ausgabe beklagten sich 34 Prozent der Befragten, dass sie häufig von Termin- und Leistungsdruck betroffen seien. Auch Arbeitsunterbrechungen, Störungen, Multitasking und Monotonie machten sie für ihr persönliches Stressempfinden verantwortlich, dessen Folgen Erschöpfung, verminderte Leistungs- und Konzentrationsfähigkeit, Gereiztheit, Schlafstörungen, Kopfschmerzen, Magenbeschwerden, Rückenleiden, Bluthochdruck, Burn-out-Syndrom, Depressionen und vieles mehr sein können.
Die zwei gegensätzlichen Sichtweisen auf den Stress sind keineswegs so unvereinbar, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Denn auch Stressforscher wie Joachim Kugler, Professor für Gesundheitswissenschaften an der TU Dresden, unterscheiden wie Urs Willmann zwischen positivem und negativem Stress. Kugler: "Es gibt den chronischen Stress, der krank macht. Der tritt dann auf, wenn ich mich bedroht fühle, sogar lebensbedrohliche Situationen erlebe. Und dann gibt es Aktivierung, Stress, den wir brauchen, an dem wir wachsen. Denn Monotonie ist nicht das, was uns gesund macht."
Positiver Stress verlängert das Leben
Das biologische Stressprogramm ist ein Erfolgsmodell der Evolution, es stammt aus der Urzeit des Menschen. Und war ursprünglich nichts anderes als eine körperliche Reaktion auf eine äußere Herausforderung.
Unsere Vorfahren mussten sich im täglichen Leben mit zahlreichen Gefahren auseinandersetzen und sich blitzschnell zwischen den beiden Möglichkeiten Kampf oder Flucht entscheiden. Der Puls beschleunigte sich, die Atmung wurde schneller, die Muskeln spannten sich an und dem Körper wurde neben der Bereitstellung von Zucker- und Fettreserven im Blut durch die Ausschüttung von Stresshormonen wie Adrenalin, Noradrenalin und mit etwas Verzögerung aus Kortisol kurzfristig zusätzliche Energie bereitgestellt. Mit Hilfe dieser Botenstoffe konnten die Sinne geschärft, die Reaktionsfähigkeit verbessert und eine das Überleben fördernde kurzfristige Leistungssteigerung erzielt werden. Die Reaktionen auf Stress sind bis heute nahezu gleich geblieben. Gehirn und Köper werden in Alarmbereitschaft versetzt. Nur muss in der heutigen Gesellschaft niemand mehr mit einem Mammut kämpfen oder vor einem Säbelzahntiger Reißaus nehmen. Bei Stress in Familie oder Job, meist aus zwischenmenschlichen oder leistungsbezogenen Problemen gespeist, ist es wenig sinnvoll, mit körperlicher Kampf- oder Fluchtreaktion zu antworten. Wenn dem Stress bei lange dauernder Belastung, sprich bei chronischem Stress, kein Ventil geboten wird, um sich abzubauen, beispielsweise durch Phasen der Ruhe und Entspannung oder sportliche Aktivitäten, kann er sich immer weiter aufstauen. Zunächst kann er ein belastendes Kopfkino auslösen mit Horrorszenarien wie einem möglichen Arbeitsplatzverlust, was ein Abschalten umso schwerer machen kann.
"Wir sind veraltete Modelle", so Petra Wirtz, Stressforscherin an der Universität Konstanz. "Bei Jägern und Sammlern war die Stressreaktion sehr sinnvoll, heute ist das kaum mehr der Fall." Wenn heute bei der Arbeit infolge einer Stress-situation vom Köper Adrenalin und Co. ausgeschüttet werden, hätten Gestresste laut Willmann die Wahl zwischen laut werden (kämpfen), krankfeiern (fliehen) oder verstummen (sich tot stellen, die dritte Option aus der Urzeit). Gerade weil wir in der heutigen Zeit kaum mehr lebensbedrohlichen Situationen ausgesetzt sind, suchen viele Menschen allerdings auch freiwillig in der Freizeit den Adrenalinkick der Gefahr. Das können Aktivitäten wie Achterbahn fahren oder auch beispielsweise Extremsportarten sein. Willmann hält viel davon, Stress durch bewusst herbeigeführte Stress-situationen abzubauen. Weil nach überstandenem Kick der Körper mit Glücksgefühlen geradezu geflutet werde.
Jeder braucht eine Portion Stress, um sich wohlzufühlen. Es kommt aber immer auf die Dosis an, die individuell sehr unterschiedlich sein kann. Positiver, nicht alltäglich auftretender Stress habe durchaus sein Gutes, sagt Willmann. Er treibe das Immunsystem an, helfe dem Gehirn, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden und mache uns zu sozialeren Wesen. Ideal sei es zudem, wenn nach einem stressigen Arbeitstag die Möglichkeit bestehe, eine Runde zu joggen oder sich in einem harmonischen heimischen Umfeld zu entspannen. Professor Kugler weist zudem noch darauf hin, dass es sehr förderlich sein könne, Stress nicht als mögliche Überlastung, sondern als Herausforderung anzusehen: "Wenn ich eine Situation als herausfordernd bewerte, dann komme ich in einen Problemlösungsmodus. Ich will es schaffen." Diese positive Grundeinstellung kann im Gehirn schon vor Anpackung der Aufgabe zu einer Ausschüttung des Belohnungs-Botenstoffes Dopamin führen, der alle für die Problemlösung nötigen Bereiche des Kopfes aktiviert. Ist die Aufgabe bewältigt, kommen Botenstoffe wie die Endorphine ins Spiel, die glücklich und zufrieden machen. Erst wenn der Stress kein Ende nimmt, wenn sich die überfordernde Situation am Arbeitsplatz nicht ändert, dann werden viele Menschen krank. Das Kortisol, so Willmann, ruiniere bei Dauergestressten das Immunsystem und sogar deren kognitive Leistungsfähigkeit.
Ein Patentrezept gegen chronischen Stress und damit einhergehende Erschöpfungszustände gibt es leider nicht. Allerdings gibt es eine Reihe von Maßnahmen, mit deren Hilfe man versuchen kann, den Stress nach und nach in den Griff zu bekommen. Als wichtiges Instrument gilt dabei ein Training in Stressmanagement. Sehr zu empfehlen sind auch Entspannungsübungen wie autogenes Training, Yoga, Pilates, Qigong oder Thai Chi. Auch Sport, insbesondere Ausdauersport, gilt seit jeher als probates Mittel zum Stressabbau. Dabei kann der Körper die angestaute Energie loswerden, Blutfette abbauen und so den Körper herunterfahren. Selbst ein Leckerli wie dunkle Schokolade soll angeblich eine kleine wirksame Anti-Stress-Methode sein.
Peter Lempert