Im Thüringer Nationalpark Hainich, der Unesco-Welterbestätte, finden stressgeplagte Menschen Stille und Erholung. „Waldbaden" nach japanischer Art heißt der neue Trend.
Im Wald fühle ich mich frei, sicher und geborgen", meint Marcus Mennecke, den man oft allein oder mit einer Besuchergruppe im Thüringer Nationalpark Hainich treffen kann. Der 32-jährige Ranger aus Eisenach will den Menschen die Schönheit und Heilkraft des Waldes nahe bringen. „Der Hainich ist ein wahrer Urwald. Nahezu unberührte Natur, die sich selbst überlassen bleibt und allein walten darf, in der alles wuchern und wachsen, zerfallen und sich zersetzen kann, wie es will", sagt er und ruckelt seinen Rucksack zurecht. Hier dürfe der Mensch nicht eingreifen, betont er. „Nicht in die natürlichen Kreisläufe eingreifen, keine Bäume abholzen, sondern umstürzende Bäume verrotten lassen und vertrauen, was der Mensch fast verlernt hat: nämlich Nichtstun und Geduld."
Das klingt befremdlich, besonders für die Städter, die häufig von einem Termin zum anderen jagen. Die Tagesabläufe sind durchgetaktet, die To-do-Liste, das Handy stets zur Hand, die ständig steigenden Arbeitsanforderungen im Kopf. Eine zunehmende Bevölkerungsdichte, Luftverschmutzung, immer mehr Lärm und Verkehr lassen viele Menschen nicht mehr zur Ruhe kommen. Sie leiden an Reizüberflutung, an Schlafstörungen, Erschöpfung oder Depressionen. Stress ist die Ursache vieler Symptome und Krankheiten und damit ein Hauptgegner unserer modernen Zeit.
Seit einigen Jahren ist das japanische „Waldbaden", das bewusste Entschleunigen und Wahrnehmen des Waldes mit allen Sinnen, auch in Deutschland ein beliebter Trend. Einfach mal abschalten, frische Luft, Ruhe und Besinnung, eigentlich nichts Neues, wird sich so mancher sagen. Doch hat der Aufenthalt im Wald auf Körper und Geist viel größere und intensivere Auswirkungen als bisher gedacht. Der Mediziner und Forstwissenschaftler Dr. Qing Li erforscht seit den 1980er-Jahren die heilsame Kraft des Waldes. So würden laut anerkannter Studien beispielsweise bei Burnout gefährdeten Menschen, wenn sie den Wald bewusst auf sich wirken ließen, schon nach vier Stunden der Blutdruck sinken und Stresshormone abgebaut werden.
Den Kern der Methode bilden Achtsamkeit und Einklang von Körper und Geist
Dr. Qing Li hat die therapeutische Methode Shinrin Yoku, übersetzt „Waldbaden", entwickelt, bei der durch achtsames Schauen, Lauschen, Riechen, Schmecken in der Natur die Sinne angeregt und Körper, Geist und Seele in Einklang gebracht werden. Die Wirksamkeit sei unumstritten, unter anderem werde damit der Stress reduziert, der Stoffwechsel verbessert, die Konzentration gefördert, Depressionen werden gemildert und das Immunsystem gestärkt. Verschiedenen Stressfaktoren wie Aggressivität, Konzentrationsschwierigkeiten, Hyperaktivität wirke das Waldbaden entgegen, es fördere einen erholsamen Schlaf und lindere sogar Schmerzen. Statt des ständig aktiven, sympathischen Nervensystems, reagiere dabei das parasympathische Nervensystem, das für Entspannung zuständig ist.
Im fernen Osten ist das Waldbaden seit Langem eine anerkannte, natürliche Entspannungsmethode. In mehr als 50 international veröffentlichten Studien wurde die stressreduzierende Wirkung von Naturaufenthalten nachgewiesen. Zur objektiven Beurteilung der gesundheitlichen Wirkung wurden die Intensität der Stresshormone, der Herzschlag, Blutdruck, die Anzahl und Aktivität von Immunzellen sowie Aktivitäten des zentralen und peripheren Nervensystems herangezogen.
Die nachweislich positive Wirkung des Waldes auf das Wohlbefinden und die Gesundheit von Menschen beruht nach heutigem Stand der Forschung insbesondere auf der Aufnahme von Pflanzenduftstoffen, vor allem der Terpene. Das sind Wirkstoffe, die Pflanzen in ihren Blüten und Nadeln für ihr Wachstum produzieren. Diese Naturdüfte wirken antibakteriell. Man vermutet, dass Pflanzen über 100 Arten von verschiedenen Terpenen enthalten und diese bis zu einem Kilometer zurücklegen können. Angenehm riechende Terpene beeinflussen das Wohlbefinden, haben Einfluss auf die Tätigkeit des Magen-Darm-Trakts, auf die Produktion von Serotonin und auf die kognitiven Fähigkeiten. Das Einatmen der Terpene, vor allem durch grüne Blattduftstoffe, erhöht auch die Ausschüttung von Dopamin.
Waldbaden wirkt aber nicht nur über die frische Luft und die Stoffe der Bäume, sondern auch durch die achtsame Wahrnehmung aller Naturerscheinungen. Im Wald gehe es nicht um Tempo oder kilometerlange Wandertouren, sondern um langsames Spazierengehen, um so den Kopf frei zu kriegen, meint Marcus Mennecke. Er empfiehlt, sich wirklich Zeit zu nehmen, das Handy zu Hause zu lassen. Beim Waldbaden gebe es nichts zu tun, nichts zu denken, nichts zu erreichen. „Nur da sein und schauen, lauschen, riechen, schmecken", erklärt der Ranger, für den die tägliche Arbeit dem Genuss des Waldbadens gleichkommt. „Ob bei der Beschilderung oder Kontrolle der Wanderwege, dass kein Baum gestürzt ist, beim Spechtmonitoring, bei den Führungen und der Umwelt-Bildungsarbeit – alles sind Momente der Freude und Zufriedenheit. Und nach zwei Wochen Urlaub will ich wieder rasch raus in den Wald."
Der Wald schärft die Sinne für die Schönheit der unberührten Natur. Das Sonnenlicht leuchtet durch die grünen Blätter. Es trägt mit zur Bildung des Vitamin D bei, wirkt nicht nur stimmungsaufhellend, sondern auch immunstärkend. Allein der länger anhaltende Blick auf die Bäume und Pflanzen sei erholsam. „Ich brauche das Grün, wenn die Blätter der Buchen, Linden und Eschen treiben oder sich das Laub einfärbt", sagt der Ranger und blickt neugierig in die Weite. Die natürliche Dynamik des Waldes mit seinem Werden und Vergehen ist allgegenwärtig. Zu jeder Jahreszeit. So lockt der Frühling mit zahlreichen Frühblühern. Auffallend schön sind Märzenbecher, Hohler Lerchensporn, Leberblümchen, Waldveilchen, Buschwindröschen, Gelbes Windröschen oder Türkenbund. Weiß, fluffig und mit feiner, betörender Knoblauchnote duftet der Nationalpark, wenn der Bärlauch in voller Blüte steht. Im Sommer zeigen sich die Orchideen in ihrer ganzen Pracht. Der goldene Herbst besticht mit seinem Farbenspiel, das mit dem kanadischen Indian Summer durchaus mithalten kann. „Und auch ein Waldbad im Winter hat seinen Reiz", schwört Marcus Mennecke." Vor allem, wenn der Winterwald die Erde glitzerweiß bedeckt."
Der Nationalpark verfügt über die größte nutzungsfreie Laubwaldfläche Deutschlands
Im Hainich handelt es sich um die größte nutzungsfreie Laubwaldfläche Deutschlands. Hier wachsen die artenreichen Kalkbuchenwälder der Mittelgebirge in europaweit bedeutender Ausprägung.
Der Hainich war jahrzehntelang militärisches Sperrgebiet. Große Bereiche des Waldes wurden daher kaum betreten und nicht genutzt, sodass sich dort die Waldbestände ungestört entwickeln konnten. Seit 2011 gehört der Nationalpark Hainich zum Unesco-Weltnaturerbe.
Marcus Mennecke zeigt auf das weich bemooste Altholz entwurzelter Baumstämme und dem losen Geäst. Zahlreiche Käfer und Pilze haben sich hier angesiedelt. Schnecken bahnen sich ihren Weg durch das Gestrüpp. Die Blätter an den hochragenden, schlanken Rotbuchen schwingen sanft im lauen Wind. Manche sinken tanzend zu Boden. „Ich genieße das Laub, wenn es raschelt und angenehm modrig riecht. Dann habe ich keine Gedanken im Kopf. Sei es das Einatmen des frisch gefallenen Baumes, die Weißfäule am modrigen Holz, der Pilz und Mikrobengeruch des Waldes oder das Schnuppern an einer Holunder- oder Lindenblüte, all das beruhigt mich total." Der Atem, im Alltag oft flach und kurz, fließt hier wie von selbst, sanft, voll und tiefer als gewohnt. Die frische Waldluft entlastet den Kreislauf. Die Blätter filtern die Luft, die ätherischen Öle der Bäume und Pflanzen machen die Lunge frei und kurbeln das Immunsystem an. Schnuppern.
Vollkommene Stille, die man hören kann, wenn die Vögel singen, die Spechte trommeln oder Frösche quaken. Im mit Entengrütze übersäten Teich spiegeln sich Baumriesen und Strauchwerk. Sanft rauscht der Wind. Bunte Schmetterlinge am Wegesrand. Eine mystische Welt tut sich auf, spannend und geheimnisvoll wie im Märchen. Im urwüchsigen Holz finden sich geisterhafte Gestalten, die Dämonen oder Elfen und Feen ähneln. Verzauberte Waldriesen. Wurzelzwerge. Nebelkrähen. Wispernde Licht- und Schattenspiele. Hier lassen sich die Sinne wie von allein öffnen. Marcus Mennecke lädt ein, genau hinzuschauen, wie sehen die Rinde, das Moos, die Blumen und Blätter, die Erde genau aus und wie fühlen sich die Pflanzen an? Wie riechen Blüten, Blätter, Beeren und Wurzeln? Wie fällt das Licht durch die Bäume. Wie zeigt sich der Himmel? Gibt es Tiere zu beobachten? Was für Geräusche machen sie? Wie hört sich das Knacken von Ästen an oder das Rauschen des Windes?
Shinrin Yokus Eintauchen in den Wald heißt auch, sich emotional auf den Wald einzulassen, die Gegenwart wertschätzen genauso wie den Umgang mit Vergänglichkeit. Seine wissenschaftlichen und philosophischen Aspekte und Hintergründe des Waldbadens schlagen eine Brücke zwischen europäischer Waldliebe und japanischer Kultur.
Marcus Mennecke hat im Wald niemals Angst, weder vor großen Tieren noch davor, sich zu verlaufen oder sich einsam zu fühlen. „Hier empfinde ich Heimat. Hier bin ich befreit von jeglichem Stress und einfach glücklich."