Rot-Weiss Essen kehrt 15 Jahre nach dem Zweitliga-Abstieg in den bezahlten Fußball zurück. Die Euphorie ist riesig, trotz einer hohen Auftaktniederlage. Zwar bemüht sich der Club, die Ambitionen zu verzwergen und gibt den Klassenerhalt als Ziel aus. Doch der Verein ist alles, nur kein normaler Aufsteiger.
Platzstürme sind schrecklich inflationär geworden. Hauptsache drauf aufs Feld, am besten gleich mit dem Smartphone bewaffnet, schnell ein Stück Rasen herausreißen, das Tor zertrümmern und sämtliche Wertgegenstände mitnehmen. Bei Rot-Weiss Essen sollte es solche Szenen am letzten Spieltag eigentlich nicht geben. Doch wenn die Emotionen an einem Standort nicht zurückgehalten werden konnten, dann an der Hafenstraße 97a in Essen-Bergeborbeck. Mit dem Abpfiff des 2:0 über Rot-Weiss Ahlen stürmten Tausende das Feld und die Hoffnung, dass hier 24 Stunden später noch die Bundesliga-Frauen der SG Essen-Schönebeck ihr Heimspiel gegen Jena austragen könnten, sank rasch. Tags darauf feierten diese trotzdem den Klassenerhalt. Nur bekam das der verkaterte RWE-Fan nach einer rauschenden, denkwürdigen Aufstiegsparty kaum mit. Essen in der 3. Liga – das war über weit mehr als ein Jahrzehnt ein Traum, mal näher, mal weiter entfernt. Nun ist er aufgewacht, der „schlafende Riese", wie der RWE so gern und so oft genannt wird. Der Deutsche Meister von 1955 hat sich aus dem Matsch der Schweine-Liga befreit und ist mehr als bereit, der Welt zu zeigen, wie laut der Puls des abgerockten Traditionsriesen noch schlagen kann. Essen war zuletzt 2007/08 drittklassig, als die Regionalliga noch die höchste Klasse unter der 2. Bundesliga war.
Am Ende wurde der Aufstieg erzwungen
Und diesen Erfolg, den wollten sie. Den wollten sie unbedingt. Nicht schon wieder scheitern. 15 Jahre nach dem Abstieg aus der 2. Fußball-Bundesliga war die Sehnsucht nach dem großen Fußball so gigantisch, dass alle Mittel heilig waren. Mittlerweile ist das ohnehin vergessen. Wie alles, was die Fans in der Rückrunde fast aufgefressen hatte. Der fatale Böllerwurf beim Spiel gegen den Erzrivalen und Hauptkonkurrenten Preußen Münster, all jene Spiele, die plötzlich nicht mehr gewonnen werden konnten, die schmerzhafte Halbfinal-Abreibung im Niederrheinpokal gegen den Wuppertaler SV. Vergessen waren auch die beiden Possen um entmachtete Kapitäne. Nun ist Essen zurück. Der Kultclub. In einer Liga voller Kultclubs. Dynamo Dresden rauscht von oben herab. 1860 München kämpft um die Rückkehr in die 2. Liga. Waldhof Mannheim hat Ambitionen, der 1. FC Saarbrücken war vergangene Saison lange gut dabei. Der MSV Duisburg kämpft um Stabilität, ebenso der SV Meppen. Für RWE ist das alles egal, wie Musik in den Ohren klingt es dennoch. Denn es klingt nicht mehr nach Provinz, es klingt nach großer Bühne. Und die werden Fans im ekstatischen Stimmungstempel Hafenstraße dem Aufsteiger bei den Heimspielen in der 3. Liga definitiv bescheren. „Es ist der pure Wahnsinn, was gerade um den Verein herum passiert. Umso wichtiger ist es, dass wir fokussiert und akribisch weiterarbeiten. Dann bin ich überzeugt, dass wir eine gute Saison spielen können", sagt Sportdirektor Jörn Nowak im „Reviersport". Für den Verein gilt der Klassenerhalt als Ziel: „Ich wünsche mir, dass das Umfeld die Euphorie lange aufrechterhält und der Mannschaft auch bei möglichen Rückschlägen Vertrauen schenkt. Das sollte sie sich erarbeitet haben." Der neue Coach Christoph Dabrowski hatte die Pott-Mentalität bereits verinnerlicht, noch bevor er den Vertrag unterzeichnet hatte. Zwischen 2006 und 2013 hatte er für den Revierrivalen VfL Bochum gespielt, ein paar A40-Ausfahrten weiter. Dort war der defensive Mittelfeldspieler ein Fan-Liebling, weil er ein Malocher war. Einer von ihnen. Einer, wie sie ihn lieben. „Mit meiner Mannschaft möchte ich emotionalen, aktiven und aggressiven Fußball spielen und die Fans begeistern", sagt er. Aber er sagt auch: „Wir wollen hart arbeiten und eine stabile Saison spielen." Es ist das realistische Szenario für das „schützenswerte Kulturgut seit 1907".
Der Zuschauerschnitt sank nie dramatisch
Aber Rot-Weiss Essen ist ein Club der Gefühle, nicht der harten Realitäten. RWE, das ist eine Symbiose aus Liebe und Leid. Ein ewiges Auf und Ab. Lange dominiert das „Ab", nun soll das „Auf" übernehmen. Im Umfeld träumen sie bei aller Bescheidenheit wieder von größeren Zeiten. „Der Weg hat gerade erst begonnen", hatte Nowak nach dem Aufstieg gesagt. Er ist voller Euphorie. „Zurzeit könnte Rot-Weiss Essen auch 500 Tickets dafür anbieten, den Spielern beim Abendessen in einer Pizzeria in Bergeborbeck zuzusehen. Nach 15 Minuten wären die alle vergriffen. Ist schon ein dezenter Wahnsinn", schreibt der RWE-Blogger @Catenaccio_07. Doch auch in den vergangenen Jahren hielten die Fans dem Verein die Treue. Beeindruckend war in den vergangenen Jahren allemal die Masse, die hinter den elf teils bemitleidenswerten Spielern auf dem Rasen stand, während diese Saison für Saison den klar angepeilten Aufstieg gegen Vereine wie Lotte, Verl und Viktoria Köln mehr oder minder kläglich versiebten, teils nur im grauen Mittelfeld landeten.
Doch egal, in welches Fettnäpfchen die Rot-Weissen traten: Ihre Fans kamen wieder. Nie sank der Zuschauerschnitt, die Corona-Pandemie natürlich ausgenommen, in den vergangenen zehn Jahren unter 6.800, in der Saison 2019/20 waren es gar fast 11.000, ein Wert, der ohne Einschränkungen auch im Corona-Jahr problemlos möglich gewesen wäre. Nur 1860 München kam in der Vergangenheit als Regionalligist auf bessere Werte, allerdings waren die Umstände des Sechziger-Absturzes ganz andere, und die Stippvisite im Amateurbereich auf ein Jahr begrenzt. Essen quälte sich seit 2007 durch die Niederungen, nachdem die Qualifikation zur neuen 3. Liga denkbar knapp verpasst wurde. 2011 ging es insolvenzbedingt gar runter bis in die 5. Liga. Selbst dort blieben mehr als 7.000 Fans pro Spiel am Ball, kaum einer wanderte zu einem der vielen Konkurrenzvereine im Pott ab. Mindestens 13.000 sollen es pro Drittliga-Spiel sein. Die Rückkehr auf die große Bühne ist für Rot-Weiss Essen dabei nicht nur eine gewaltige Chance, sondern auch eine Verpflichtung – und eine Prüfung für das Umfeld. Nicht erst seit einer „Sportschau"-Dokumentation, die im vergangenen Herbst ausgestrahlt wurde, sind die teils problematischen Strukturen innerhalb der Fanszene überregional in den Blickpunkt gerückt. RWE will diese politisch zumeist weit rechts verorteten Stadiongäste, laut „WAZ"-Recherchen aus dem Frühjahr beläuft sich die Gesamtzahl der Problemfans auf etwa 130, nicht in seinen Reihen, erkennt aber auch die Macht, die sie ausüben. Und macht, so der Vorwurf von außen, als Verein viel zu wenig gegen das damit eng verknüpfte Hooligan-Problem. In der vergangenen Saison gab es wilde Verfolgungsszenen beim Auswärtsspiel in Münster, als gewaltbereite Anhänger die Heimtribünen stürmten, Fans verletzt wurden. Auf der Aufstiegsfeier machte kürzlich das Video eines „Sieg Heil"-Rufes die Runde. All das wirft große Schatten auf die eigentlich vielfältige, extrem treue Anhängerschaft, die nun vermehrt im nationalen Fokus steht und dort – gemeinsam mit dem Club – viel gegen den schlechten Ruf tun kann. Rot-Weiss Essen polarisiert, Rot-Weiss Essen schlägt über die Stränge, Rot-Weiss Essen hat seine Attraktivität auch durch viele Ecken und Kanten und passt daher so gut in sein wenig glanzvolles Umfeld. Allen voran muss Rot-Weiss Essen in den kommenden Monaten aber nach 15 quälend langen Jahren wieder lernen, nicht mehr die Nummer eins seiner Liga zu sein. Vielleicht hat das sogar Vorteile, vielleicht ist nicht mehr jeder Gegner – so zumindest die jahrelange Vermutung – gegen RWE bis in die Haarspitzen motiviert.
Schwere Krawalle beim Spiel in Münster
Und doch gehört dieser Club sogleich zur Liga-Elite, wird hinter Kaiserslautern oder Dresden und auf Augenhöhe mit 1860 München zu den zuschauerstärksten Vereinen zählen. Er wird sich aber auch weniger Fehler erlauben, weniger aktionistische Entscheidungen treffen dürfen: Zwei suspendierte Kapitäne und ein verdammt spät geschasster Trainer hinderten zwar dieses Mal nicht am Aufstieg in die 3. Liga. Doch souverän wirkte das Auftreten längst nicht immer. Rot-Weiss Essen war zu oft gut darin, sich auf der Erfolgsmission selbst im Weg zu stehen. Auch dieser Ruf kommt mit in die neue Spielklasse – man täte gut daran, ihn abzulegen. Wo Profifußball draufsteht, muss auch Professionalität drinstecken, vom Trainerteam über die Gremien bis zu den Fans. Der Riese ist erwacht, seine volle Größe hat er aber noch lange nicht erreicht.