Mächtige Felsen: 300 Millionen Jahre Erosion haben die „Côte de Granit Rose" zu einer unwirklich scheinenden Urlandschaft im Norden der Bretagne gestaltet.
Musik und Stimmengewirr am frühen Morgen macht den Neuankömmling im Norden der Bretagne neugierig. Der Blick aus dem Fenster, an den alten Mauern hinunter und weit hinein in die lange Gasse überrascht: Es ist der 14. Juli, Nationalfeiertag mit Flohmarkt und Musikumzügen. Im Juni wähnte sich der Bretone noch allein, nun aber – im Juli und August – kommen die Fremden und bevölkern die vielen kleinen Orte, vor allem die Küsten im Norden der Bretagne.
Wir aber nähern uns langsam von hinten, fahren über Guingamp und Lanvollon im Binnenland nach Tréguier, einst Bischofssitz und Hauptstadt der Landschaft Trégor am Zusammenfluss von Jaudy und Guidy. In der Nähe kam 1253 der heilige Yves zur Welt, einer der großen Schutzpatrone der Bretagne. Wir haben uns gleich in dieses hinreißende, typisch bretonische Städtchen mit bezaubernden Fachwerkhäusern auf behauenen Granitquadern und in unsere Ferienwohnung verliebt. Sie liegt in der Hauptgasse in einem Haus aus dem 17. Jahrhundert. In den Zimmern bestechen dicke, alte Balken, grob gemauerte Wände und ein Kamin vom Boden bis zur Decke. Die Sonne malt großzügige Bilder auf Stuhllehnen, Couchen und Frühstückstisch. Dieses Licht ist ein Geschenk für jeden Maler und jeden Fotografen. Vom Balkon genießen wir die große Wiese hinunter, die Rosen an jedem Geländer, dichte Hortensienbüsche in weiß und rosa an den Mauern. Schnell stocken wir auf dem Markt im Ortskern unsere Vorräte für die nächsten Tage auf: Artischocken natürlich, bretonische Äpfel, Baguette, Ziegenkäse, Brie und Cidre. Ach ja, und Mandelkuchen zum Kaffee am Nachmittag.
Schutzpatron kam hier zur Welt
Was für ein Morgen! Selbst unser Croissant-Verkäufer ist begeistert: „Nach sechs Jahren haben wir endlich wieder einen Sommer" Die Sonne brennt schon aufs Autodach. Heute wollen wir uns den Seewind um die Nase wehen lassen an der Pointe du Château. Unterwegs gibt es gute Gründe, ab und zu anzuhalten. In Plougrescant markiert ein schiefer Glockenturm die Chapelle St. Gonéry mit farbenfrohen Holzdeckenmalereien. Das auf einer kleinen Halbinsel gelegene Perros-Guirec und Ploumanac’h zählen zu den beliebtesten Ferienorten am wilden Atlantik. All diesen Orten gemeinsam ist eine gewisse Melancholie und die wahnwitzige Masse an üppigen Hortensienbüschen von hellblau über violett, rosa bis dunkelrot. Vermutlich provoziert das Grau des Granits, der diesem Landstrich seine Gesichtsfarbe gibt, zu solchen Exzessen: Rhododendren, Hyazinthen, Flieder, Rosen an jeder Parkbank, jedem Fenster. So viele Blumen, so wenig Menschen!
Dahinter schlägt der Atlantik seine blauen Wellen, arbeitet sich an unzähligen winzigen Fels-Eilanden ab. Weiter als an allen anderen Küsten Europas zieht sich hier das Meer für sechs Stunden zurück, um dann mit gleicher Vehemenz jeden Zentimeter zurückzufordern: ein Tidenhub von 14 Metern! Ein kurioses Bild bei Ebbe, wenn die vor Anker liegenden Schiffe auf dem Sandgrund um Halt zu ringen scheinen. So weit das Auge reicht, erstreckt sich der feuchte Sand wie samtige Wellpappe und gibt seine Geheimnisse preis: Inseln, Sandbänke, Priele, Felsen im grünen Algenkleid. Darüber kreisen Möwen, Brachvögel, Seeschwalben, Grau- und Silberreiher gierig nach Essbarem. Genauso halten es die Menschen: die Köpfe gesenkt suchen sie nach Krabben, Strandschnecken, Taschenkrebsen, Herz- und Venusmuscheln. Aber Vorsicht. Wie ein galoppierendes Pferd kehrt das Hochwasser zurück, sagen die Bretonen.
Wir sind an der Côte de Granit Rose, dem wildesten Landstrich der ganzen Bretagne, wie wir finden. Das muss man einfach gesehen haben, wenn sich an der Steilküste die Felsen im Morgen- oder Abendlicht in die abenteuerlichsten Fantasiegebilde verwandeln: Da steht der „Elefant" neben der „Schildkröte", „Napoleons Hut" neben dem „Schloss des Teufels". Staunend wandern wir lange zwischen violetter Heide darin umher. Hier hat die Natur geklotzt. 300 Millionen Jahre Erosion haben die rote vulkanische Küste zu einer unwirklich scheinenden Urlandschaft gestaltet. Wer diesen Küstenstreifen zu Fuß erwandern möchte, begibt sich am besten auf den „Sentier des Douaniers", den Zöllnerweg. Der führt achteinhalb Kilometer weit vom Hafen Plouma bis zum Strand von Trestraou. Man genießt dabei einen traumhaften Blick auf eine Reihe besonders grotesker Felsen und die sieben Inseln, ein Paradies der Vögel. Ausklang in Port Mer im „La Godille". An der Straße der Austern gibt es natürlich zur Vorspeise Austern mit einem Glas Muscadet. Schon Frankreichs Könige ließen sich aus dieser Region die köstlichen Schalentiere liefern. Ein Muss ist zum Hauptgang die zartrosa Versuchung, das Salzwiesenlamm, von den Marschen beim Mont St. Michel. Gekrönt zum Schluss mit den göttlichen, süßen Crêpes, dazu trinken wir wie die Einheimischen Cidre, den frischen Apfelmost.
Alte Seeräuber-Häuschen
Felsen-Eilande, ebenfalls aus rosa Granit, sind an der Landungsbrücke von Arcouest zu sehen. In einem weißen Holzschiff tuckern wir in nur zehn Minuten durch eine faszinierende Inselwelt zur Ile de Bréhart, ein Archipel von 96 Felsmonumenten an der bretonischen Côte d’Armor, nördlich vom bildschönen Hafenstädtchen Paimpol. Kleine, unbewohnbare Felsfluchten, die den Vögeln gehören. Mittendrin die Île Sud und Île Nord, verbunden durch eine kleine Brücke. Weiße Leuchttürme zieren kleine Inselchen, auch der granitene „Phare du Paon", Pfauenleuchtturm, zeigt sich felsenstark. Ähnlich wie die „Moulinde Birlot", die Gezeitenmühle, die aus Hunderten wasser-beschliffenen Granitblöcken besteht. Unglaublich: statt Hortensien und windzersausten Kiefern plötzlich Palmen, Agaven, Feigen- und Mimosenbäume. Ein geheimnisvolles Mikroklima hier macht das möglich. Dazwischen trifft man auf alte Seeräuberhäuschen, versteckte Kirchlein, feine Anwesen. Zumeist in rosa Granit. Davon gibt es in dieser Region ja wahrlich genug.
Mit Blick auf die gewaltigen Felsblöcke geht es gegen Sonnenuntergang zurück in unser gemütliches Domizil in Tréguier. Wer wollte nun nicht gern noch den Abend in einer landestypischen Bar verbringen. Gegenüber der Kathedrale St. Tugdual bestellen wir Café au lait und Cidre – Bruchstücke dieses archaischen Bretonisch im Hintergrund – und klappen unsere Karte aus: Abstecher zu den Kalvarienbergen im Landesinneren? Oder noch Belle-Époque im Seebad Perros-Guirec, die Sandstrände von Trégastel-Plage und weiter bis zum „Felskopf" von Trébeurden?