Das schaurig-schöne Hochmoor im nordenglischen West Yorkshire inspirierte Emily Brontë, eine der berühmten literarischen Schwestern, zu ihrem gewaltigen Meisterwerk „Sturmhöhe". Ihr Wohnort Haworth feiert dieses Jahr den 200. Geburtstag der Autorin.
Schwarze Wolken jagen wie eine Geisterflotte über den Himmel. Heftiger Regen prasselt unablässig herab, der Wind pfeift und peitscht mir das kalte Nass ins Gesicht. Besser könnte das Wetter im nordenglischen Haworth nicht sein. Es lässt mich eintauchen in die Welt von „Wuthering Heights" („Sturmhöhe"), dem einzigen Roman von Emily Brontë, die in dem kleinen Ort in West Yorkshire zu Hause war. Die Handlung spielt im windgepeitschten Hochmoor, auf dem Gutshof Wuthering Heights. Hauptakteure sind der Außenseiter Heathcliff, einer der faszinierendsten Unholde der Weltliteratur und Cathy, deren Familie ihn als Findelkind aufnahm. Liebende und Seelenverwandte, die weder mit- noch ohne einander sein können. Die düstere, komplexe Geschichte über glühende Leidenschaft und Liebe, Eifersucht, Hass, Verrat, Rachsucht und Zerstörung zieht sich über zwei Generationen hin. Selbst der Tod gebietet keinen Einhalt. In der sturmzersausten Welt rings um den Gutshof tobt ein Orkan aus kaum zu bändigenden Emotionen.
Wohl wissend, dass so viel Leidenschaft und wilde Liebe im viktorianischen England aus der Feder einer Autorin nicht schicklich gewesen wäre, schon gar nicht eine alle Konventionen sprengende, zerstörerische Liebe wie die zwischen Cathy und Heathcliff, schickte die Pfarrerstochter Emily Brontë ihr Manuskript unter dem männlichen Pseudonym Ellis Bell an den Londoner Verlag Thomas Cautley Newby. Als der Roman im Dezember 1847 erschien, sorgte er für empörtes Aufsehen und Bewunderung zugleich. Für die einen ein kolossales Meisterwerk, war er für die anderen eine literarische Kuriosität und ein Werk des Teufels. Eine Kritik im „Graham’s Magazine" sah es so: „Einem alten Sprichwort nach träumen diejenigen, die nachts Käsetoast essen, vom Teufel. Der Autor von ‚Wuthering Heights‘ hat anscheinend sehr viel davon gegessen".
Inspirationen zum Roman fand Emily, wenn sie mit ihrem Hund zwischen den windumwehten Hügeln kilometerweit durchs Hochmoor streifte und dabei ihrer Fantasie freien Lauf ließ. Die Ruine Top Withens, sieben Kilometer von Haworth entfernt, diente ihr als Vorbild für das abgelegene Gehöft Wuthering Heights. Kulisse war allerdings nur die Landschaft rund um das Gebäude, denn dieses, selbst als es noch ganz war, hat keinerlei Ähnlichkeit mit dem, das sie im Buch beschreibt.
Der Roman sorgte für Aufsehen
Die junge Autorin lebte mit ihrem Vater, Vikar der örtlichen Kirchengemeinde, ihren ebenfalls schreibenden Schwestern Charlotte („Jane Eyre"), Anne („Die Herrin von Wildfell Hall") und ihrem Bruder, dem Maler Branwell, seit 1820 im Pfarrhaus (Brontë Parsonage) in Haworth. Im 19. Jahrhundert eine Industriestadt mit hoher Einwohnerdichte, zählt der Ort heute 6.000 Einwohner. Zu den Sehenswürdigkeiten der schmucken Altstadt zählen neben dem Heim der Brontës die Kirche St. Michael and all Angels und der historische Bahnhof, Teil der Keighley and Worth Valley Railway, eine original erhaltene Dampfbahnstrecke aus dem Jahr 1867, die noch immer in Betrieb ist. Die Räume im Brontë Parsonage sind bis heute originalgetreu eingerichtet. Im Wohnzimmer steht der Esstisch aus Mahagoni, an dem bei Kerzenlicht die Romane der Schwestern entstanden. Das Haus ist längst zur Pilgerstätte für Brontë-Fans geworden. Seit 1928 ein Museum, beherbergt es die weltweit größte Sammlung an Manuskripten, Briefen und Sekundärmaterial von und über die berühmte Schriftstellerfamilie. Das ehemalige Pfarrhaus ist heute nach Shakespeares Heimatstadt Stratford die meistbesuchte literarische Kultstätte Großbritanniens.
Vor dem Gebäude liegt der alte Friedhof. Moosbesetzte Grabsteine ragen in die Höhe. Über ihnen thronen riesige Bäume, der Regen tropft durch das kahle Geäst. Auf den Wegen zwischen den Grabreihen haben sich tiefe Pfützen gebildet. Hier muss Emily gegangen sein auf ihrem Weg ins Hochmoor, aus dem sie ihre Inspiration zog. Ins Moor bei diesem Wetter? Lieber nicht. Auch am nächsten Tag gießt es wie aus Kübeln. Als der Regen nachlässt, zieht dichter Nebel auf. Ganz wie im Roman. „Neblig und kalt setzte der gestrige Nachmittag ein", heißt es dort. „Ich hatte so halb und halb die Absicht, ihn am warmen Ofen meines Arbeitszimmers zu verbringen, anstatt über Hügel und Moor nach Wuthering Hights zu traben", sagt Mr. Lockwood, der neue Mieter für Thrushcross Grange zu Heathcliff. Statt ins Moor oder zum warmen Ofen im B&B zieht es mich ins nahe Stansbury, wo Emily und ihre Geschwister seit ihrer Kindheit viele Stunden in Ponden Hall verbrachten, dem Landhaus des Textilfabrikanten Heaton, das im frühen 19. Jahrhundert die größte private Bibliothek Yorkshires beherbergte. Das Haus soll Inspiration zu Thrushcross Grange, dem Heim der Lintons, gewesen sein. Vieles deutet darauf hin, dass Ponden Hall das eigentliche Wuthering Hights ist. So zum Beispiel das Zimmer mit dem Nachbau jenes „eichenen Kabinetts", in dem der Ich-Erzähler des Romans nächtigte. Einschließlich des berühmten Fensters, durch das der Geist von Cathy verzweifelt um Einlass fleht. Die britische Musikerin Kate Bush verewigte diese Szene in ihrem Song „Wuthering Heights", der 1978 die Charts stürmte. Ponden Hall ist seit 1998 im Besitz der früheren Journalistin Julie Akhurst und ihrem Mann Steve Brown. Seit 2014 betreiben sie das Haus als B&B, in dem sie immer wieder Medienschaffende und Prominente als Gäste begrüßen.
Emily starb am 19. Dezember 1848 mit 30 Jahren an Tuberkulose – drei Monate nach dem Ableben ihres Bruders Branwell und fünf Monate vor dem Tod ihrer Schwester Anne. Das Sofa, auf dem Emily ihren letzten Atemzug tat, steht noch heute im Wohnzimmer. Dass ihr einziger Roman einmal in 61 Sprachen übersetzt und weltberühmt werden würde, hätte sie wohl nie zu träumen gewagt. Anlässlich ihres 200. Geburtstages am 30. Juli finden im Brontë Parsonage während des ganzen Jahres Ausstellungen und Events statt.