Aus tierischen Stammzellen im Labor gezüchtetes Muskelgewebe könnte bald die Massentierhaltung überflüssig machen und die Ernährung der wachsenden Weltbevölkerung fördern. Auch unter ökologischen Gesichtspunkten wäre das äußerst sinnvoll.
Wenn bekannte Milliardäre wie Microsoft-Gründer Bill Gates, Google-Miterfinder Sergej Brin oder Virgin-Chef Richard Branson allesamt ihr Geld in das gleiche Projekt investieren, kann man mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass es sich bei In-vitro-Fleisch (IVF) wohl um ein lukratives Zukunftsgeschäft handelt. Umgangssprachlich nennt man es auch Laborfleisch, Kunstfleisch oder Retortenfleisch.
Das Fleisch aus der Petrischale stand im US-Repräsentantenhaus bezüglich einer möglichen gesetzlichen Markt-Zulassungsregelung genauso auf der Tagesordnung wie im Deutschen Bundestag. Dessen Wissenschaftlicher Dienst fasste den aktuellen Sachstand in einer brandneuen Studie zusammen, die auch Erkenntnisse berücksichtigte, die das Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS) beim Karlsruher Institut für Technologie (KT) im Auftrag des Bundesforschungsministeriums gewonnen hat. Derzeit gibt es weltweit ein halbes Dutzend ambitionierter und größtenteils dank reichlich fließender Investorengelder finanziell bestens aufgestellte Start-ups.
Schon 2005 hatte die niederländische Regierung einen Forschungsfonds für ein erstes IVF-Projekt zur Verfügung gestellt. Kein Wunder, dass die Niederländer im Jahr 2013 dank des Physiologie-Professors Mark Post von der Universität Maastricht ein erstes konkretes Ergebnis des Wissenschaftsprojekts präsentieren konnten: den ersten künstlichen Hamburger der Weltgeschichte. Der Rindfleisch-Burger aus dem Labor wurde von 16 Freiwilligen verkostet, die zwar die typische Konsistenz bestätigten, aber mit dem Geschmack und der fehlenden Saftigkeit nicht ganz zufrieden waren. Das Preis-Leistungs-Verhältnis war jedenfalls katastrophal. Der Burger war mit Produktionskosten von rund 250.000 Euro nicht gerade ein Schnäppchen. Mark Post: „Das war noch kein richtiges Produkt, sondern eher ein Konzept. Inzwischen können wir viel mehr von diesem Fleisch herstellen, und damit wird es billiger. Ein Kilogramm kostet heute etwa 60 Euro."
Mark Post hat sein ursprünglich an der Uni Maastricht angesiedeltes Projekt Cultured Beef seit 2016 durch das Start-up Mosa Meat ergänzt. Das bekam aber enorme Konkurrenz durch das Unternehmen Memphis Meat, das 2015 im Silicon Valley gegründet wurde. Die Amerikaner präsentierten ein Hackbällchen aus Zellkulturen und zogen bereits 2017 mit Hühner- und Entenfleisch aus Zellkulturen nach. Während Mosa Meat und Memphis Meat hoffen, mit dem Verkauf ihres Fleischs 2021 beginnen zu können, möchte das ebenfalls in Kalifornien ansässige Start-up Just, das schon mit seiner veganen Mayonnaise für Furore gesorgt hat, noch dieses Jahr dem Verbraucher ein erstes Retortenfleisch-Produkt zum Kauf anbieten. Mark Post hat hochgerechnet, dass die Burger seines Unternehmens Mosa Meat um das Jahr 2020 preislich um die zehn Dollar angesiedelt sein müssten und schon fünf Jahre später nicht mehr teurer als der günstigste Burger aus konventioneller Fleischproduktion sein würden.
In Israel möchte das Start-up SuperMeat, bei dem die PHW-Gruppe, der Mutterkonzern des deutschen Geflügelproduzenten Wiesenhof, eine Minderbeteiligung erworben hat, bis 2020 marktreifes Geflügelfleisch aus Zellkulturen entwickeln. In Japan konkurrieren Shojinmeat Project und Integriculture Inc., wobei letztgenanntes Unternehmen bis 2021 sogar Gänsestopfleber aus dem Labor kommerziell vertreiben möchte. Nur der Vollständigkeit halber sei hier noch angemerkt, dass inzwischen auch an der Entwicklung von Fischfilets aus Zellkulturen gearbeitet wird. Das kalifornische Jungunternehmen Finless Food möchte in absehbarer Zeit Blauflossen-Thunfisch aus dem Bioreaktor anbieten – und damit womöglich auch dazu beitragen, die überfischte und vom Aussterben bedrohte Tierart zu retten. Die Technik für die Kultivierung von Tierzellen wurde ursprünglich für medizinische Zwecke entwickelt. Das Grundprinzip ist nicht sonderlich kompliziert. Zunächst werden mittels einer schmerzfreien Biopsie Muskelstammzellen von lebenden Tieren entnommen. Anschließend werden die Stammzellen in eine Nährlösung gegeben, damit sie sich vermehren können. Diese Zellvermehrung ist schier unbegrenzt, weil sich Stammzellen fast uneingeschränkt immer wieder teilen können. Ein großes Problem ist derzeit noch die ideale Nährlösung. Zwar hat sich ein Kälberserum als sehr effektiv erwiesen, doch ist dieses sehr teuer und in seiner Gewinnung ethisch ziemlich bedenklich. Daher wird derzeit auf Hochtouren an Nährlösungen mit alternativen Wirkstoffen, beispielsweise auf Pflanzen- oder Mikroorganismenbasis, geforscht.
Noch sehr hoher Einsatz von Antibiotika vonnöten
Da Fleisch größtenteils aus Muskeln besteht, müssen sich die Stammzellen in Muskelzellen verwandeln, was gleichsam weitgehend automatisch geschieht. Schwieriger ist der nächste Schritt, der darin besteht, Muskelzellen zu Muskelfasern und damit zu einer Fleischstruktur wachsen zu lassen. Dafür müssen die Muskelzellen auf Trägerschichten in einen Bioreaktor gegeben werden. Es bilden sich Muskelfasern heraus, die aber nicht sonderlich dick werden können.
Eine Mischung mit kultivierten Fettzellen als Geschmacksträger und aus Gründen der Saftigkeit wird als nötig erachtet. Die Herstellung von Fettgewebe aus der Retorte ist auch schon gelungen, nur dauert das Ganze einige Wochen länger als das Züchten des Muskelgewebes. Auch was die typische Fleischfarbe betrifft, gibt es bei dem Fleisch aus der Petrischale noch einen gewissen Nachholbedarf. Und ob künftig bei der Arbeit mit Zellkulturen ganz auf den Einsatz von Antibiotika verzichtet werden kann, scheint fraglich zu sein, weil Zellkulturen keinerlei Immunsystem besitzen. Gespannt darf man auch darauf sein, inwieweit die Unternehmen den Einsatz gentechnischer Verfahren öffentlich transparent machen werden. In kleinem Rahmen ist die Herstellung von Laborfleisch offenbar gar kein so großes Problem mehr, aber noch gibt es keinerlei Verfahren für eine industrielle Großproduktion. Daher sind sämtliche Prognosen für einen recht baldigen Markteintritt mit Vorsicht zu genießen.
Das gilt auch für sämtliche Voraussagen bezüglich positiver Umwelteffekte. Als gesichert gilt bislang nur der (noch viel zu) hohe Energiebedarf der Bioreaktoren. Es gibt allerdings diverse Untersuchungen, die davon ausgehen, dass eine komplette Umstellung auf Zellkulturfleisch deutlich weniger Landbedarf als die Produktion von konventionellem Fleisch erfordern und künftig viel weniger Treibhausgase freisetzen würde. Auch der Wasserverbrauch dürfte beim Retortenfleisch deutlich niedriger liegen. Ein zentrales Argument zugunsten der neuen Technologie ist natürlich fraglos das Vermeiden der Massentierhaltung und des Tötens von Tieren zur Fleischproduktion. Noch ist allerdings völlig ungewiss, ob die Verbraucher bereit sein werden, auf Fleisch umzusteigen, das nicht aus dem Stall kommt. Immerhin gibt es schon Umfragen, die den Kunstfleischpionieren gewisse Hoffnungen machen können.