Geradezu bedrohlich ragt die Eiger-Nordwand steil empor. Fast 70 Bergsteiger sind bislang an der berüchtigten Felswand in den Berner Alpen ums Leben gekommen. Am 24. Juli 1938 wurde sie von einer deutsch-österreichischen Gruppe erstmalig bezwungen.
Fast wären sie über ihr Ziel hinausgeschossen. Als die vier Bergsteiger Anderl Heckmair, Heinrich Harrer, Ludwig Vörg und Fritz Kasparek am 24. Juli 1938 nach dreitägiger Kletterei durch die Eiger-Nordwand endlich den Grat unterhalb des Gipfels erreichten, hätten sie im Nebel beinahe noch die Orientierung verloren. Heckmaier kommentierte später: „Das wäre doch Pech gewesen: Auf der Nordseite durchzukommen und über die Südseite abzustürzen, weil man den Gipfel übersehen hat."
Doch es ging alles gut, um 15.30 Uhr stand die deutsch-österreichische Seilschaft auf dem Gipfel. Die berüchtigte Eiger-Nordwand war bezwungen. Die vier Bergsteiger verspürten in diesem historischen Moment jedoch weder Freude noch Erlösung, wie Heinrich Harrer viele Jahre später schrieb: „Die Befreiung kommt zu plötzlich, unsere Sinne und Nerven sind zu abgestumpft, unsere Körper zu müde, um einen Gefühlstaumel zu gestatten. Wir sind nicht mit knapper Not dem Verderben entronnen, sondern haben in unserer Freundschaft immer Halt und Zuversicht gefunden. Nie haben wir am guten Ausgang unseres Unternehmens gezweifelt. Aber der Weg war schwer."
„Wer sie kennt, fürchtet sie"
Der Eiger selbst, jener 3.967 Meter hohe Berg in den Berner Alpen, war schon 80 Jahre vorher erstmals bestiegen worden. Im August 1858 hatte der irische Bergsteiger Charles Barrington zusammen mit den bezahlten Bergführern Christian Almer und Peter Bohren den Berg ohne größere Probleme über die Westseite erreicht. Mitte des 19. Jahrhunderts waren die meisten Gipfel in den Alpen erreicht, der Montblanc als höchster Gipfel des Gebirgszugs sogar schon 1786 zum ersten Mal. Fortan wurde deshalb nach immer schwierigeren Routen gesucht – der Weg zum Gipfel wurde zum eigentlichen Ziel. Die Nordwände von Matterhorn, Grandes Jorasses und Eiger galten dabei als die „letzten drei Probleme der Alpen", die es noch zu bewältigen galt. Nachdem die beiden erstgenannten 1931 beziehungsweise 1935 erklettert worden waren, rückte die Eiger-Nordwand umso mehr in den Fokus.
Düster und unheimlich ragt die Wand über 1.800 Meter steil empor. „Von den Tausenden, die jährlich unter dem Schatten dieser grandiosen Mauer vorbeigehen, die an Höhe und Steilheit die des Wetterhorns noch übertrifft, ist wohl jeder von dem wilden Abbruch zutiefst beeindruckt. Aber so überwältigend der Anblick dieser Felsabstürze von unten auch sein mag – niemand kann sie richtig einschätzen, der nicht von oben in sie hineingeschaut hat. Nicht einmal in der Dauphiné habe ich einen so jähen, glatten Abbruch gesehen. Ein Stein, der von der Gratkante abbricht, fällt Hunderte Meter hinunter, ohne einmal aufzuschlagen." So beschrieb bereits im Jahr 1864 der britische Bergsteiger Adolphus Walburton Moore die Eiger-Nordwand. Und meinte weiter: „Es ist fast verblüffend, dass die Westseite dieses massigen Felsberges verhältnismäßig leicht zu begehen ist, während die Nordwand so jäh in die Tiefe stürzt, als ob hier der ganze Berg abgeschnitten wäre. Glatt und absolut unersteigbar."
Wie ein böser Störenfried laste die Wand über dem freundlichen Tal von Grindelwald, hat der berühmte Bergsteiger Luis Trenker einmal gesagt. „Niemand liebt sie, und wer sie kennt, fürchtet sie." Früher erzählten sich die Menschen, dass hoch oben in der Eiger-Nordwand der Oger haust, eine menschenfressende Sagengestalt. Tatsächlich kamen bis heute mehr als 70 Bergsteiger in der Wand ums Leben, weshalb man sie auch als Eiger-Mordwand bezeichnete. In den 30er-Jahren hatte die Regierung des Schweizer Kantons Bern deshalb sogar zeitweise ein Besteigungsverbot erlassen, welches allerdings rechtlich nicht haltbar war und bald darauf wieder zurückgenommen werden musste.
Das Verbot war eine Reaktion auf den Tod der vier Bergsteiger Anderl Hinterstoißer und Toni Kurz aus Deutschland sowie Willy Angerer und Edi Rainer aus Österreich gewesen, die im Juli 1936 beim Versuch, die Eiger-Nordwand zu bezwingen, gestorben waren. Bergretter hatten noch versucht, das letzte lebende Mitglied der Seilschaft, Toni Kurz, zu bergen – doch er konnte sich an einer überhängenden Stelle nicht mehr weit genug abseilen und starb völlig entkräftet nur wenige Meter über den Rettern.
Harrer vermarktete sich danach perfekt
Die Öffentlichkeit war bei dieser Tragödie wie auch schon beim Tod der beiden Münchener Max Sedlmayr und Karl Mehringer im August 1935 hautnah dabei gewesen: Die Alpinisten in der Nordwand waren von Grindelwald sowie vom Kleinen Scheidegg aus mit dem Fernglas gut zu erkennen. So konnten Reporter den tragischen Verlauf der Expedition nur wenig zeitverzögert in die Heimat durchgeben. Die direkte Einsehbarkeit der Eiger-Nordwand vom Tal aus trug ebenfalls zum immensen öffentlichen Interesse an deren Erstbesteigung bei.
Der Berg sollte noch drei weitere Todesopfer fordern, ehe sich im Juli 1938 die Deutschen Anderl Heckmair und Ludwig Vörg sowie die Österreicher Fritz Kasparek und Heinrich Harrer aufmachten, die Eiger-Nordwand endlich zu bezwingen. Ursprünglich waren die beiden Seilschaften getrennt voneinander aufgebrochen. Ludwig Vörg war ein Jahr zuvor schon einmal an der Nordwand gescheitert, zusammen mit Mathias Rebitsch, aber immerhin war er als Erster lebend zurückgekehrt. Auch beim zweiten Anlauf stieg er zusammen mit Heckmair zunächst wieder ab, weil sie schlechtes Wetter befürchteten. Als sie es erneut probierten, kamen sie jedoch zügig voran und holten die österreichische Seilschaft mit Kasparek und Harrer bald ein. Dabei profitieren sie von den bereits geschlagenen Stufen, waren vor allem aber auch durch ihre zwölfzackigen Steigeisen schneller – bei den Österreichern verfügte Kasparek nur über Zehnzacker und Harrer hatte gar keine Steigeisen. Die beiden Gruppen taten sich zusammen, wobei Anderl Heckmair die Führung übernahm. „Er war der kompletteste Bergsteiger in der Seilschaft. Außerdem war sein Trainingszustand herausragend", sagt Uli Aufferman, Verwalter des Heckmair-Archivs. Den meisten Ruhm erntete später allerdings Heinrich Harrer, weil er sich von den vier Bergsteigern am geschicktesten vermarktete.
Am Nachmittag des 23. Juli schlug das Wetter tatsächlich um. Ein Gewitter zog durch, und am nächsten Morgen erwachte die Gruppe in einer echten Winterlandschaft. Das Quartett meisterte jedoch auch diese Aufgabe, ebenso wie die tückischen Lawinen aus Geröll, Eis und Schnee. „Wer mit Sicherheit eine solche Wand durchklettern kann, muss sich wohl erhaben fühlen über alle menschlichen Kleinigkeiten", sagte Anderl Heckmair später. Mit so viel Optimismus wurde auch das „letzte große Problem der Alpen" schließlich gelöst.
Nazis nutzten Propaganda-Chance
Für die vier Bergsteiger ging damit ein Traum in Erfüllung. Doch auch die Nationalsozialisten instrumentalisierten die Erstbesteigung der Eiger-Nordwand für ihre Zwecke: Ein Volk, das solche Söhne hat, könne nicht untergehen – die erfolgreiche Besteigung sei „Zeugnis des unbeugsamen Siegeswillens unserer Jugend", hieß es in der NS-Propaganda. Bereits 1936 im Rahmen der Olympischen Spiele in Berlin hatte Adolf Hitler den Erstbesteigern der Eiger-Nordwand eine Goldmedaille versprochen. Ganz besonders kostete es die Propaganda aus, dass es eine deutsch-österreichische Seilschaft war, der diese alpine Meisterleistung gelang – nur wenige Monate war der „Anschluss" Österreichs an das Deutsche Reich erfolgt. Den Vorwurf, die Nordwand nur für die Nationalsozialisten durchstiegen zu haben, haben die Erstbegeher allerdings immer abgestritten. Gleichwohl war ihnen bewusst, dass sich ihre Leistung durchaus positiv auswirken würde. So bekam Frist Kasparek danach von Heinrich Himmler persönlich das Angebot, in die SS einzutreten, das er auch annahm; Anderl Heckmair und Ludwig Vörg wurden Bergführer an der NS-Ordensburg in Sonthofen. Heinrich Harrer, der schon vorher Mitglied der NSDAP und der SS gewesen war, bekam durch staatliche Unterstützung die Möglichkeit, an einer weiteren Expedition zum Nanga Parbat teilnehmen zu können.