Karelien in Finnland ist eine urige und mystische Landschaft. Eine abenteuerliche Art, sie zu entdecken, ist per Boot.
Wo Finnland am Östlichsten ist, geht es wild zu. Was all jenen, die es in diese Region nahe der Grenze zu Russland verschlägt, nicht sofort bewusst wird. Denn das, was die Landschaft Kareliens im Innersten zusammenhält, ist eine überwältigende Ruhe. Zunächst. Die Wälder sind dunkel und scheinbar ohne Ende. In ihnen regiert das Wasser. Eine nicht zu überblickende Vielfalt an Teichen, murmelnden Bächen, großen Seen und gebieterischen Flüssen. Einer von diesen Flüssen, der die Landschaft aufgrund seiner Windungen wundersam trennt und gliedert, ist der Ruunaa. Ein Fluss, so verschlungen und klar, dass sich Forelle, Hecht und Zander in ihm tummeln, weshalb er bei Anglern hoch im Kurs steht. Doch dem Ruunaa ist nicht zu trauen!
Man hatte uns eine nette Bootstour in traditionellen Holzbooten in Aussicht gestellt. Was wir bekommen sollten, war weit mehr als das. Dabei hätte uns manches Wort zu denken geben müssen. „Streift eure Regenjacken über Haut und Haar, haltet euch fest, seid mutig", rät uns Jarkko, unser Steuermann. Mutig – was soll das heißen? Chris aus Worms, der in der Bootsmitte Platz nimmt, strahlt wie ein Honigkuchenpferd. Er ist ohne Argwohn. Wie die meisten an Bord. Das Wasser ist spiegelglatt. Und vom Ufer scheint auch keine Gefahr auszugehen. Doch nach gefühlten zehn Kilometern des gemütlichen Dahingleitens kommt es dann, das Andere. Der Ruunaa nimmt mit einem Mal Fahrt auf, Schaumkronen rücken näher, türmen sich auf, Verblockungen werden sichtbar. Und ehe man Amen sagen kann, rutscht das Boot über eine Walze in die Senke und knallt gegen das zurückrollende Wasser. So heftig, dass der Fluss in rauen Mengen über das Dollbord ins Innere spritzt. Wusch! Wer vergessen hat, die Kapuze seiner Regenjacke überzuziehen, wird schlagartig nass bis auf die Unterwäsche. Es trifft nur einen. Mich. Wieder lacht Chris. Aus purer Schadenfreude. Wir haben unseren Spaß, jeder auf seine Weise, vier weitere Stromschnellen lang. Dann endlich machen wir Rast an einer Blockhütte. Der Großteil der Gruppe eilt, um den hübsch vorbereiteten Speisentisch zu erobern. Nur einer hat ein anderes Ziel an diesem kühlen Tag: die offene Feuerstelle. Sie gibt ihm Gelegenheit, sich und seine nasse Kleidung zu trocknen.
Villa Kunterbunt als Herberge
Von einer Abgeschiedenheit in die noch größere. Übernachtung in Möhkö. Finstere Tannen, nichts als finstere Tannen! Und viele Freunde: Mücken, und zwar die der besonders lästigen Art. Mittendrin ein Villa-Kunterbunt-Ensemble als Herberge. Irgendwo im Nirgendwo – und dieses Nirgendwo erzeugt große Gefühle. Umso mehr, da etwas Ur-Finnisches auf dem Programm steht: Saunen. „Eine Wohltat nach dem Höllenritt!" jauchzt Antonia. Und die anderen jauchzen mit. Fünfzehn Minuten später ist die Natur Zeuge, wie sieben jauchzende Nackte in den kalten Grenzfluss Koytayoki springen. „Nur einen Kilometer stromaufwärts schwimmen", macht Chris uns bewusst „und wir sind im anderen Teil Kareliens."
„Ein schöner Gedanke, aber keine gute Idee", warnt uns später Gastwirtin Elvi Lemmetyinen, „auch wenn alles nur nach Wald und Wildnis aussieht, im Unterholz patrouillieren Soldaten, und schon manch ein Unverbesserlicher hat die Nacht im russischen Gefängnis zugebracht."
Historisch gesehen war Karelien von jeher ein Zankapfel. Auch konfessionell. Schweden, Russen und Finnen kämpften um die Gebietshoheit. Finnlands Unabhängigkeit 1917 änderte daran zunächst nichts. Erst die Pariser Friedenskonferenz von 1947 schuf den heutigen Grenzverlauf.
Wildkräuter und essbare Blüten
Fahrt nach Nurmes, das wie Manhattan fein angeordnet auf einer Halbinsel liegt. Beschaulich. Die Lage am See Pielinen. Die historische Holzaltstadt. Die neugotische Kirche aus Ziegelstein, was selten für die Gegend ist. Die rekonstruierte karelische Siedlung Bomba.
Die skandinavische Küche ist schlecht, behaupten böse Zungen. Ein Irrtum. Die Küche Kareliens ist ein Augenschmaus. Beim Zubereiten der Speisen wird viel mit Wildkräutern und Blumenbuketts aus essbaren Blüten gearbeitet. Wie in dem urigen Landgasthaus „Puukarin Pysäkki" in Nordkarelien. Die Mitreisenden schlemmen und schnalzen. Pikeperch, das ist Zander – „vollendet zart", kommentiert Sonja. Lachs – „zum Niederknien", strahlt Chris, „dagegen ist der aus dem Supermarkt richtig oll." Was auf keiner Tafel fehlt: Piroggen, Teigtaschen mit Milchreisfüllung. Die karelischen sind eine Klasse für sich. Die besten, heißt es, macht Ritva. Sie lebt auf dem Land nahe Nurmes. Selbst Edelrestaurants in Helsinki bestellen bei der „grand old lady of karelian cooking". Was das Geheimnis, die Grundessenz ihrer Piroggen ist? „Liebe", meint Ritva, „ist die wichtigste Zutat." Liebe? Ja, Liebe. Wer Ritva bei einem ihrer Piroggen-Workshops beobachtet, um dann selbst Hand anzulegen, der nimmt es ihr ab. Schließlich verrät Ritva doch noch ihr Rezept: „Der Teig besteht aus Weizen und Roggenmehl, aus Salz, Wasser, ein wenig Butter. Und die Füllung wird aus Reis, Milch und Salz hergestellt, ein bisschen Ei kommt außerdem hinzu. Dann bekommt der Porridge eine andere Konsistenz, lässt sich besser auf den Pies verteilen." Und wie viele Piroggen stellt Ritva jeden Tag von Hand her? „Wenn wir hier zu zweit oder zu dritt arbeiten, dann können wir rund 1.600 von diesen Pies am Tag produzieren – und wenn wir eine wirklich große Bestellung haben, dann können es auch schon mal 2.000 sein. Aber dann arbeiten wir hier zu viert."
Gipfelsturm! Der Berg Koli. Schriftsteller wie Juhani Aho (1861–1921), Maler wie Eero Järnefelt (1863–1937), Komponisten wie Jean Sibelius (1865–1957), die nach langen Zeiten der Fremdherrschaft nach nationaler Identität suchten, erhoben ihn zum Heiligtum.
Finnland ist ein flaches Land
Ein Ranger des Nationalparks erläutert, wie alles begann. „Ende des 19. Jahrhunderts kamen die ersten Touristen hierher – das hing auch mit einer Bewegung zusammen, die Karelianismus genannt wird. Es war fast eine Art Pilgern zum Koli. Und das hing natürlich mit der Suche nach der finnischen Identität zusammen. Wir waren ja damals noch nicht unabhängig, aber es gab die Bestrebung, es zu werden. Und die Menschen suchten danach, was typisch finnisch sei, nicht russisch und nicht schwedisch – und fanden das auch hier in der Landschaft rund um den Koli."
Der Koli ist also ein Koloss, ein Riese. Nüchtern betrachtet ist das Felsplateau eine Erhebung, mehr nicht. Bescheidene 347 Meter hoch. Aber man muss die Verklärung verstehen. Finnland ist ein flaches Land. Der Koli ein Sonderling, der über Wälder und Gewässer thront. Und herzergreifende Aussichten gewährt. Vor allem in der Abendsonne, wenn der gewaltige inselreiche Pielinen-See tief unten die Farben des Himmels widerspiegelt, neu mischt und über die Landschaft wirft. Jean Sibelius widmete seine vierte Sinfonie dem Koli. Eine Hymne und Huldigung an alles Naturschöne. Elegisch, sakral, fremd, voller Mystik. Allein wer die Vierte hört, wird ergriffen sein und dem Ruf Kareliens folgen.