Die größten Medaillenchancen hat EM-Gastgeber Deutschland im Speerwurf der Männer. Gleich drei heiße Eisen hat der DLV in dieser Disziplin im Feuer.
Bei der Leichtathletik-EM in Berlin könnte es eine Ü90-Party geben. Nein, damit ist nicht das Alter der Zuschauer gemeint, sondern die Weite der deutschen Speerwerfer. Mit Olympiasieger Thomas Röhler, Weltmeister Johannes Vetter und dem frisch gekürten Deutschen Meister Andreas Hofmann hat ein Trio bereits früh in dieser Saison die 90-Meter-Marke geknackt. Das Trio des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV) liegt in der europäischen Bestenliste deutlich vor dem Vierten, dem Esten Magnus Kirt.
In keiner anderen Sportart ist Gastgeber Deutschland bei der Heim-EM so auf Sieg programmiert wie im Speerwurf. „Da ist noch einiges mehr rauszuholen", sagte Röhler nach dem deutschen Dreifachsieg beim Diamond-League-Auftakt in Doha Anfang Mai. „Wenn wir einmal ins Rollen kommen, sind wir nur noch ganz schwer zu schlagen."
„Da ist noch einiges mehr rauszuholen"
Das sind die deutschen Speerwerfer nun schon seit einiger Zeit. Bei den Sommerspielen 2016 in Rio de Janeiro triumphierte Röhler, bei der WM im vergangenen Jahr in London ließ Vetter der Konkurrenz keine Chance. Ihre sportliche Rivalität stachelt sie zu Höchstleistungen an, und dass ihnen in Hofmann ein dritter Weltklasse-Speerwerfer gehörig Druck macht, wirkt ebenfalls leistungsfördernd.
„Jeder von uns dreien will natürlich Gold holen. Am Ende wird die Tagesform entscheiden", sagt Röhler. Will man bei der möglichen deutschen Ü90-Party gut aussehen, darf man sich keine Schwächen in der Vorbereitung und im Wettkampf leisten. „Unter uns entscheiden Nuancen", sagt Röhler, „da wird mal der eine, mal der andere leicht vorne liegen." Deutschland, ein Speerwurf-Land. „Diese Speerwurf-Generation ist unglaublich", sagt Bundestrainer Boris Obergföll, der unter seinem Geburtsnamen Henry auch schon die 90-Meter-Marke knackte.
Angesichts der derzeitigen Dominanz ist es kaum zu glauben, dass die deutschen Speerwerfer bei den vergangenen Europameisterschaften 2016 in Amsterdam komplett leer ausgingen. Röhler hat in drei Anläufen noch keine einzige EM-Medaille geholt – diese Schreckensbilanz will er bei den Titelkämpfen in Berlin „ausblenden". Auch dem Fakt, dass der Weltjahresbeste Vetter (92,70 Meter) und auch Hofmann (92,06 Meter) schon weiter geworfen haben als er selbst (91,78 Meter), misst der Jenaer nicht zu viel Bedeutung bei: „Ich bin super zufrieden und ruhig. Zum Glück habe ich noch nicht alle Karten ausgespielt."
Rekordweiten sind in Berlin nicht zu erwarten. Erfahrungsgemäß fliegen die Speere nicht ganz so weit, wenn es für die Athleten um Gold, Silber und Bronze geht. Ein Beleg: Mit ihren Saisonbestweiten waren alle drei deutschen Top-Werfer weiter als Röhler bei seinem Olympiasieg 2016 (90,30). Röhlers Heimtrainer Harro Schwuchow sagt deshalb auch, dass für seinen Schützling bei der EM „nur der Sieg zählt". Die Weite sei zweitrangig.
Irgendwann aber, wenn nicht so viele Zuschauer im Stadion sind, wenn nicht so viele Kameras auf ihn gerichtet sind, wenn der Wind günstig steht und seine Form herausragend gut ist, dann will Röhler etwas Historisches schaffen: Er will den neuen Speer als erster Mensch über 100 Meter wuchten. Diese magische Marke sei „leicht verrückt", sagt er, „aber ich will herausfinden, ob ein Mensch das packt."
1984 hatte der Potsdamer Uwe Hohn das alte Speer-Modell bei einem Wettkampf im Berliner Jahnsportpark sogar auf 104,80 Meter gejagt – und damit für eine Regeländerung gesorgt. Aus Angst vor verletzten Sportlern oder Zuschauern wurde zwei Jahre später der Schwerpunkt des Speeres nach vorne verlegt. Seitdem wartet die Leichtathletik auf den ersten 100-Meter-Wurf. Am dichtesten dran war der Tscheche Jan Zelezny bei seinem Weltrekord im Jahr 1996 (98,48 Meter).
Es seien eher „psychologische und mentale Barrieren, die einen solchen Wurf bisher verhindert haben", sagt Röhler. „Aus physikalischer Sicht ist ein Wurf über 100 Meter sicher möglich."
Typisch Röhler. Der diplomierte Sport- und Wirtschaftswissenschaftler ist ein Tüftler, ständig auf der Suche nach dem perfekten Wurf. Aufgrund seiner im Vergleich eher schmächtigen Statur setzt der WM-Vierte auf seine ausgezeichnete Technik.
Ganz anders sein Rivale Vetter: Der Weltmeister mit den dicken Oberarmen kommt über die Kraft und Dynamik. „Thomas trifft den Speer sehr gut", sagt Vetter. „Ich bin mehr der Hau-Drauf-Typ." Der Weltmeister ist unbekümmert und eine Frohnatur, der gestiegene Erwartungsdruck macht ihm angeblich nichts aus. Ganz im Gegenteil: „Ich habe es ganz gut gelernt, dass ich den Rucksack, den ich mit mir herumtrage, eher als Schub nehme – und nicht als Bremse."
Vetter mit Problemen am Oberschenkel
Im Kopf ist Vetter bereit für die Europameisterschaft, aber was ist mit seinem Körper? Der 25-Jährige plagte sich über Wochen mit Problemen am Oberschenkel, weswegen er bei den Deutschen Meisterschaften auch nur den dritten Platz hinter Hofmann und Röhler belegte.
„Wir geben Vollgas, damit ich bis zur Europameisterschaft in Berlin fit bin", sagte der Olympia-Vierte. „Ich gebe mir Mühe, 100 Prozent zu trainieren." Mehrmals in der Woche fuhr er von Offenbach nach Freiburg, um sich dort von Spezialisten behandeln zu lassen. Es wird ein Wettlauf mit der Zeit. Der DLV nominierte Vetter zunächst nur unter Vorbehalt, den letzten Leistungsnachweis erbrachte der Athlet aber bei den Deutschen Meisterschaften.
icht wenige Experten trauen Hofmann zu, bei der EM aus dem Schatten von Vetter und Röhler herauszutreten. Sein Sieg beim Meeting in Jena und jetzt bei den Deutschen Meisterschaften könnte ein Fingerzeig für Berlin gewesen sein. Der Mannheimer ist gesund durch die Saison gekommen und hat ganz offensichtlich erfolgreich an seinem Anlauf experimentiert. Wie geht der 26-Jährige nun aber mit der gestiegenen Erwartungshaltung um?
Bei den Frauen ruhen die Hoffnungen auf Christin Hussong. Die U23-Europameisterin von 2015 hat sich mit einer Weite von 66,36 Meter bei den Werfertagen in Halle unter die Top-3 Europas geschoben. „Christin hat einfach eine Fackel", sagt Bundestrainer Mark Frank. „Die muss sie nur an den Speer kriegen."
Noch fehlt es der 24-Jährigen an Konstanz, aber in diesem Jahr hat sie sich diesbezüglich schon verbessert. Ex-Weltmeisterin Katharina Molitor hat dagegen eine schwache Saison hingelegt. In Berlin dürften die Frauen angesichts der möglichen Ü90-Party ihrer männlichen Kollegen nur in der zweiten Reihen tanzen.