Die USA hat die Route 66, Ostdeutschland hat die Bundesstraße 96. Auf dieser Straße konnten DDR-Bürger vor 30 Jahren mit dem Trabi vom tiefen Sachsen über Berlin-Ost bis zu den beschaulichen Ostseebädern Rügens tuckern. Die B96 gibt es heute auch noch, mittlerweile zur Gänze asphaltiert. Doch bekannt ist sie selbst in Deutschland nicht gerade, und das macht das Buchprojekt von Autor Raphael Thelen und Fotograf Thomas Victor umso reizvoller. Als Fahrzeug wählten sie einen gebrauchten, schwarzen Kombi, „auf dessen breiten Polstern wir gemütlich sitzen und das nicht nervig piepst, wenn wir uns nicht anschnallen", liest man im ersten Kapitel. Weil die Ostdeutschen in der jüngsten Vergangenheit so einiges mitmachen mussten und die Berichterstattung in den Medien sich meist auf die unschönen Seiten konzentrierte, wählte Thelen einen anderen Blickwinkel für sein Roadbook: Er wollte herausfinden, wovon die Menschen, die er entlang der Strecke traf, träumen.
Die Vergangenheit ist dabei oft mit im Spiel. In Zittau, einem abgelegenen Städtchen im Süden Sachsens, erzählt eine 77-Jährige, wie sie den Brand von Dresden am Ende des Zweiten Weltkriegs erlebte. Träume haben es in diesem abgehängten Ort schwer. Danach wird es dramatisch und menschelnd. In einem Dorf in der Lausitz gibt es einen feucht-unfröhlichen Kneipenabend, an dessen Ende ein weinender schwuler Mann steht, der sich nicht traut, sich zu outen.
Im Plattenbaugebiet Hoyerswerda gibt es eine Begegnung mit einer Architektin, die erzählt, welche Fehler in der Stadtplanung der Nachwendezeit begangen wurden. Exzellente Fotos ergänzen den Text. Und es wird noch unschöner: die Schaufelradbagger im Tagebau Welzow Süd wirken wie Höllenmaschinen in einer Kraterlandschaft.
Eines der abenteuerlichsten Kapitel ist der Besuch einer Siedlung von Aussteigern, die keine Fotos erlaubten und auch nicht die Nennung des Ortsnamens. Doch das sollte man im Original lesen.