Massive Lebensmittelverschwendung ist seit geraumer Zeit zum Problem geworden. Frankreich hat vor zwei Jahren ein Gesetz erlassen, um die Verschwendung zu halbieren. Deutschland hat dieses Ziel übernommen. Der Nachhaltigkeitsforscher Günther Bachmann hält dieses Ziel für realisierbar, fordert aber „energischere Ansätze" zur Umsetzung.
Herr Bachmann, nach einer aktuellen Studie der Umweltorganisation WWF gehen jedes Jahr in Deutschland 18 Millionen Tonnen Lebensmittel verloren. 60 Prozent dieser weggeworfenen Nahrungsmittel fallen in der Produktion, der Gastronomie und in Betriebsküchen an, etwa 40 Prozent gehen auf das Konto der Privathaushalte. Haben die Deutschen ein Problem mit der Wertschätzung von Nahrungsmitteln?
Das Problem haben nicht die Deutschen allein. Das ist weltweit eine einigermaßen verlässliche und richtige Zahl. Auf der ganzen Welt ist die Tendenz festzustellen, Dinge wegzuwerfen, die wir nicht brauchen oder zu viel kaufen. Das ist eine Frage der Gewohnheit und der Preise.
Der WWF drängt darauf, die Lebensmittelverluste zu verringern und pocht auf die Sustainable Development Goals der Vereinten Nationen, denen zufolge bis 2030 die weltweite Nahrungsmittelverschwendung pro Kopf auf der Ebene des Einzelhandels und der Verbraucher halbiert werden soll. Was sollte der Gesetzgeber tun?
Zunächst einmal muss man sagen: Das Ziel ist nicht eine Idee des WWF, sondern eine der Bundesregierung. Die hat in einem zweijährigen Verhandlungsprozess zu den Sustainable Development Goals proaktiv dieses Ziel vorangetrieben. Zu einem relativ frühen Zeitpunkt waren die deutsche Bundesregierung und die Stakeholder (70 Organisationen auf Bundesebene, die sich um das Thema Nachhaltigkeit verdient machen, Anm. d. Red.) mit einer positiven Grundstimmung in die Gespräche über die Sustainable Development Goals gegangen. Am Anfang war ein leeres Blatt Papier, am Ende standen 17 Ziele darauf. Unter anderem ist eines der Ziele, die Lebensmittelverschwendung bis 2030 zu halbieren. Insofern ist das nicht weiter verwunderlich, dass die Bundesregierung das umsetzen will, denn wir haben es ja selbst mit entwickelt. Das ist nicht, wie üblich, eine Forderung der Umweltverbände gewesen, sondern ist aktive Politik. Trotzdem ist die Studie des WWF sehr verdienstvoll, sie rekapituliert den Stand der Dinge. Der Rat für nachhaltige Entwicklung hat eine besondere Rolle. Wir haben nämlich 2015, also noch bevor die Sustainable Development Goals formal beschlossen worden sind, auf Bitten der Bundesregierung ein Gutachten erstellt und darin dargelegt, wie man diese Ziele umsetzt. In diesem Gutachten spielt die Lebensmittelverschwendung eine ganz hervorgehobene Rolle.
Was macht konkret die Regierung, um die Halbierung der Lebensmittelverluste bis 2030 zu erreichen?
Die Regierung hat das Ziel schon in die nationale Nachhaltigkeitsstrategie übernommen. Das muss sie auch machen, denn globale Ziele können nicht einfach so umgesetzt werden. Dazu braucht es eine nationale Strategie. Da ist auch das Ziel, die Lebensmittelverluste zu halbieren, enthalten. Die Bundesregierung will bis zum Herbst eine Methodikgrundlage erarbeiten. Denn: Wir wissen nicht genau, wie wir die Lebensmittelverschwendung statistisch-methodisch zählen. Das ist bislang ein großes Fragezeichen. Bis Herbst will sie dieses Fragezeichen vom Tisch haben, um danach die Nachhaltigkeitsstrategie weiterzuentwickeln. Noch in diesem Jahr soll die Nachhaltigkeitsstrategie in sechs Punkten fortgeführt werden. Einer davon ist Lebensmittelverschwendung.
Und wie wahrscheinlich ist es, dass es Deutschland schafft, bis 2030 neun Millionen Tonnen weniger Lebensmittel wegzuwerfen?
Ich halte es für sehr realistisch. Dieses Wegwerfen ist kein gezielt bösartiger Akt, sondern ist zum großen Teil auf Missgeschicke und Unachtsamkeit zurückzuführen. Das hat etwas mit Verpackungsgrößen und damit zu tun, das auf den Produkten ein Mindesthaltbarkeitsdatum steht. Die Verführung zum Wegwerfen muss man kippen. Ich glaube, dann sind Erfolge recht schnell zu erwarten.
In der Untersuchung geht es auch um den Ist-Zustand in den 16 Bundesländern. Fünf Länder, Baden-Württemberg, Bayern, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Sachsen, werden als Pioniere der Vermeidung von Lebensmittelabfällen eingestuft. Was können die Länder, die zum Mittelfeld gehören, und die Nachzügler besser machen?
Jedes Land kann und sollte sich Schlüsselbereiche auswählen, die in ihrem Land besonders wichtig sind. Zum Beispiel Stadtstaaten mit Universitätsstandorten können bei den Cafeterien und Mensen ansetzen. In Flächenländern besteht die Möglichkeit, in der Außer-Haus-Verpflegung oder in Kitas anzusetzen und zum Beispiel die Landfrauen miteinzubeziehen. Da kann man sich ein Profil erarbeiten. Das haben die ersten fünf auch getan: Sie haben runde Tische einberufen. Das finde ich extrem wichtig, denn nur Politik und Bürger können gemeinsam ein solches Vorhaben bewerkstelligen.
Vier Länder, Baden-Württemberg, NRW, Sachsen und Schleswig-Holstein, haben laut der Studie in ihren Abfallwirtschaftsplänen strategische Ziele zur
Vermeidung von Nahrungsmittelverlusten festgeschrieben. Ist das ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung?
Das ist ein guter Schritt, aber ich würde nicht sagen der einzige. Wir haben in der Studie gesehen: Es gibt andere, die machen das gleiche, nämlich strategische Ziele setzen über Nachhaltigkeitsstrategien oder über spezifische Lebensmittelstrategien. Das Wichtige ist, dass in der Öffentlichkeit deutlich wird: Die Landesregierung will etwas umsetzen und ergreift entsprechende Maßnahmen.
Auch das Regierungsbündnis aus CDU, CSU und SPD ist sich der Problematik bewusst. Im Koalitionsvertrag heißt es immerhin, die Lebensmittelverschwendung soll eingedämmt und dabei die gesamte Wertschöpfungskette einbezogen werden. Geht also die Große Koalition die Thematik energisch genug an?
Wir würden uns von unserer Politik, glaube ich, auf der Umweltseite immer noch energischere Ansätze wünschen. Ich fände es angemessen, wenn Gutachten wie das vom WWF nicht nur sagen würden: Die Politik muss dies und jenes tun, und hier ist eine Liste mit unseren Forderungen. Sondern wenn die Umweltverbände im gleichen Atemzug sagen würden: Wir reduzieren die Lebensmittelverschwendung in unseren Kantinen, bei unseren Veranstaltungen auf null. Ich finde das glaubwürdiger, als wenn man allein nur die Politik in die Pflicht nimmt. Ich finde es gut, dass das Bundeslandwirtschaftsministerium die Berechnungsgrundlagen mit der Statistik erstellt. Meine Hoffnung ist, dass wir dann eine verlässliche Zahlengrundlage haben und so sagen können: Die Halbierung schaffen wir vielleicht auch bis 2025.
Die Bundesregierung will mit den beteiligten Unternehmen der Lebensmittelwirtschaft Zielmarken zur Reduzierung vermeidbarer Lebensmittelabfälle vereinbaren. Denken Sie, dass dadurch eine spürbare Veränderung möglich sein könnte?
In der Vergangenheit hatten wir schon öfter mal solche Debatten, und es hat sich gezeigt, dass eine Zielmarke für das Papierrecycling ohne Rechtsgrundlage in den 90er-Jahren extrem erfolgreich war. Wir haben uns auch eine Zielmarke für den Einsatz von EDTA und sonstige Weichmacher gesetzt. Die war auch unverbindlich, ist aber nicht befolgt worden. Eine Zielmarke für die Außer-Haus-Verpflegung kann durchaus auch unverbindlich funktionieren, weil da über die Kantinen eine große Nachfrage der öffentlichen Hand besteht. Wie so oft im Leben: Nicht das „Ob", sondern letztlich das „Wie" ist entscheidend. Es kommt darauf an, wie man die Zielmarken gestaltet.
Der WWF sieht in der gemeinsamen EU-Agrarpolitik viel Potenzial, um Lebensmittelverluste zu vermindern. Derzeit wird die GAP (Gemeinsame Agrarpolitik der EU) für den Zeitraum 2021 bis 2028 verhandelt. Wenn es nach dem WWF geht, soll da das Problem mitberücksichtigt werden. Wie stehen die Chancen dafür in den ohnehin schwierigen Verhandlungen?
Ich muss passen, ich sehe nicht so wirklich, wo in der gemeinsamen Agrarpolitik der Punkt sein soll, den der WWF meint. Vielleicht übersehe ich da auch etwas? Wir haben im Nachhaltigkeitsrat jedenfalls das Thema gemeinsame Agrarpolitik oben auf der Agenda stehen.
Wir haben das Thema Lebensmittelverschwendung nicht hineingebracht, denn die absolut primären Fragen sind ja: Wie geht es mit der Flächenbindung der Subventionen weiter? Stichwort Größendeckelung für die Landwirtschaft. Und wie bringt man Ökologie, Vielfalt und Fruchtfolgeänderung in die Förderlogik hinein? Nachernteverluste spielen in Deutschland keine vergleichbar große Rolle wie in anderen Ländern.
Die Regierungskoalition will überprüfen, ob das Mindesthaltbarkeitsdatum für Lebensmittel sinnvoll ist. Warum eigentlich nicht gleich ein Verfallsdatum auf allen Verpackungen einführen? Könnte das zu einem bewussteren Umgang mit Produkten führen?
Ich gebe Ihnen Recht: Das Ziel ist ein bewussterer Umgang mit Nahrungsmitteln. Ich glaube aber nicht, dass dabei wirklich ein Verfallsdatum hilft. Das heutige Mindesthaltbarkeitsdatum interpretieren die Menschen als Verfallsdatum. Was wir aber wollen, ist, dass die Menschen es einfach so machen wie meine Großmutter das früher gemacht hat: Sie hat nicht auf ein Datum geschaut, sondern hat gekostet, ob die Milch sauer ist oder nicht. Wenn sie nicht sauer war, hat sie sie verwendet und wenn sie sauer war, hat sie Sauermilch daraus gemacht. So müsste das auch bei Käse und Wurst sein. Der mündige Konsument wird nicht deswegen mündig, weil er irgendeine Zahl auf der Verpackung liest und dann wegschmeißt. Er ist erst dann mündig, wenn er die Verpackung öffnet und prüft, ob das Produkt noch in Ordnung ist. •