Jetzt herrscht Frühling in Südafrikas Namaqualand: Nach den ersten Regenfällen verwandelt sich die sonst karge Landschaft plötzlich in ein wogendes Blumenmeer. Durch die einsame Halbwüste nördlich von Kapstadt streiften einst nur die Ziegenhirten vom Volk der Nama. Heute erkunden auch Besucher die wilde Bergwelt des Richtersveld-Nationalparks, wo einem die Schätze einfach zu Füßen liegen.
Das weite, einsame Land wird über Nacht verzaubert. Und nichts kündigt am Abend zuvor die Überraschung an, die einen am nächsten Morgen erwarten wird. Zunächst leuchten im fototapetenhaften Abendrot noch die Sandsteinfelsen und Granitbrocken, als würden sie gleich zu glühender Lava verschmelzen. Dann blendet sich langsam Farbe um Farbe aus. Die Dämmerung verschluckt selbst die grünen Schattierungen von Gebüsch und Gras sowie die Erdtöne der Landschaft.
Nach dem Sonnenuntergang scheint in der kosmischen Weltenlenkerzentrale dann jemand einen Hebel nach dem anderen umzulegen. Gewitterwolken jagen über den Himmel, Blitze zucken. Doch anders als in den vergangenen Nächten, als dicke Tropfen aufs Wellblechdach trommelten, fällt jetzt kein Regen mehr. Zur Geisterstunde flaut der Wind etwas ab. Langsam zieht eine Nebelbank vom Atlantik heran. Sie hüllt in einer gespenstischen Umarmung alles ein.
Vor Menschenaugen verborgen vollzieht sich in dieser Nacht die Verwandlung, sichtbar beim ersten Sonnenstrahl des neuen Morgens. Die karge Landschaft des Namaqualands, fast das ganze Jahr über eine trockene und lebensfeindliche Halbwüste, hat sich mit dem Frühlingsregen verwandelt. Die Pflanzen sind herangewachsen und haben ihre Knospen ausgebildet. Nun ist es endlich wieder soweit. Gelb, orange, weiß, rot, sogar blau: Ein Meer aus Blüten breitet sich aus.
Tausende, nein: Millionen von Blumen öffnen ihre Kelche, locken die Bienen zum Nektar in ihrem Inneren. Ganze Täler scheinen nur noch aus farbigen Tupfern zu bestehen, wie auf dem 360-Grad-Panorama-Bild eines Impressionisten. Es sind vor allem die Buschigen Kapringelblumen, die hier wild wachsen wie in Holland die Tulpen auf den Feldern. Doch Mutter Natur hat noch mehr hübsche Töchter. Da wächst an einer Stelle das Prächtige Bärenohr, mit Zungenblüten so orange wie Eidotter. Da wirbt anderswo in Gelb mit Purpurschimmer der Kaplöwenzahn um Bestäuber. Und da wachsen so kunterbunt viele Arten an Mittagsblumen, dass man ein ausgewiesener Experte sein muss, um alle diese großen und kleinen Sonnentaler identifizieren zu können. Willkommen im Garten Eden!
Die vom allgegenwärtigen Blütenstaub betörten Touristen, aber auch manche Einheimische verwenden gern biblisches Vokabular, um das Namaqualand zu beschreiben. „Die Region ist ein Paradies. Zwar blühen die Wildblumen nur im August und September – das ist bei uns der Frühling. Andere Pflanzen haben aber ihren eigenen Rhythmus. Wer die Augen dafür hat, kann also das ganze Jahr über etwas entdecken", sagt Karel du Toit. Der Mann ist in der Nähe von Garies auf einer Farm aufgewachsen und damit ein Eigengewächs des Namaqualands. Die einst nur vom Nama-Volk besiedelte Gegend liegt in Südafrikas Nordkap-Provinz ein paar Autostunden entfernt von Kapstadt zwischen dem Atlantischen Ozean und der Kalahariwüste. Normalerweise ist in den Orten Springbok und Okiep nicht viel los: Besucher verbringen hier meist nur eine Nacht auf ihrem Roadtrip gen Namibia. Doch jetzt holpern die Pickups der Einheimischen und die Mietwagen der Besucher über die Schotterpisten des benachbarten Namaqua-Nationalparks: Hier ist die Blumenpracht besonders abwechslungsreich.
„Alle haben sich angepasst"
Karel du Toit kümmert sich in seinem Job als Polizist darum, dass Viehdiebe aufgespürt werden und hinter Gitter kommen. Deswegen gibt es kaum einen Landbesitzer, den er nicht kennt. Das hilft ihm auch in seiner Freizeit: Dann taucht der sympathische Hobby-Botaniker in eine ganz andere Welt ein – in die der Sukkulenten. Im Namaqualand soll es nämlich mehr dieser sogenannten Fettpflanzen geben als an jedem anderen ariden Ort der Welt. „Meine Heimat lernt man am besten auf den Knien kennen – auf der Suche nach den kleinen Juwelen im Verborgenen." Ein großer Teil der über 3.000 Pflanzenarten, die es hier gibt, ist endemisch, kommt also nur in der Region vor.
Mit dem sympathischen Fachmann als Guide schaut man sich also nicht nur die offensichtlichen Blumenwiesen an, sondern stapft auch Hügel hinauf und hinunter und fährt mit dem Geländewagen über abenteuerliche Pisten, um das Gelände zu erkunden. „Aus der Entfernung sieht alles gleich aus. Aber ich halte nach weiß schimmernden Quarz-Adern Ausschau – da haben wir gute Chancen auf außergewöhnliche Funde." Während auf den Kämmen der Hügel prominent die großen Köcherbäume aufragen, verstecken sich in den Spalten zwischen den Felsen winzig kleine Aloen und Mittagsblumengewächse. Viele davon strecken ihre bunten Blüten in Richtung Sonne. Manchmal sind sie so klein wie ein Stecknadelkopf, manchmal aber größer als die Pflanze selbst.
Auch noch etwas weiter im Norden, im Richtersveld-Nationalpark an der Grenze zu Namibia, sieht man erst einmal nur Steine. Rote Steine, braune Steine, graue Steine, schwarze Steine. Billionen von ihnen wurden vor Urzeiten mit Urkräften zusammengebacken, verschoben, in die Luft geschleudert und zu mächtigen Bergen aufgetürmt. Einer der mit über 1.200 Metern höchsten heißt nicht ganz zufällig Mount Terror. „Pflanzen, Tiere, Menschen: Alle haben sich angepasst, um im Richtersveld leben und überleben zu können", sagt Johan de Waal. Seit über zehn Jahren bringt der Guide seine Gäste mit organisierten Campingtouren in den Nordwesten Südafrikas. „Am Anfang sieht alles wüst und leer aus", meint er. „Doch mit der Zeit bekommen die Leute ein Auge für die Naturwunder."
Doch auch er muss nun erst einmal auf die Steine achten, die sich als Geröll von den Bergen in tiefe Schluchten und breite Täler ergießen. Schließlich sitzt er am Steuer seines altgedienten Land Cruisers und will möglichst selten einen platten Reifen wechseln müssen. Wenn Johan de Waal und seine Passagiere sich vom Atlantik her dem Gebirge nähern, muss er nach staubigen Passagen entlang des Orange River halsbrecherische Pässe überwinden und holperige Pisten meistern, die auch seinem darauf ausgelegten Geländewagen und dem Anhänger mit Küche und Campingausrüstung viel abverlangen. Man kann ihn problemlos umfahren, doch wer es darauf anlegt: Der Helskloofpass gilt, der Name ist auch in diesem Fall Programm, bei Allrad-Enthusiasten als Reifeprüfung und Höllenritt.
Der Richtersveld ist keine Bilderbuchwüste, die sich mit rotem Sand und lieblichen Dünenwellen ausbreitet wie weiter im Landesinneren die Kalahari, sondern eine außerirdisch karge Szenerie, fast baumlos und zur Mittagszeit von einer gleißenden Sonne in grelles Licht getaucht: Es ist eine Bergwüste, wo das Land so wild zu sein scheint wie nirgends sonst in Südafrika – rau, ungezähmt, voller Ecken und Kanten, weit weg vom Rest der Welt.
Halb Mensch, halb Pflanze
Am Halfmenspass stehen ein paar Dutzend „Halbmenschen" Spalier: Die sehr seltenen Pflanzen aus der Familie der Hundsgiftgewächse, die vor allem aus einem schlanken Stamm mit vielen spitzen Stacheln zu bestehen scheinen, wachsen fast ausschließlich im Richtersveld. Sie krümmen sich mit den Jahren, meist in Richtung Norden, der Sonne entgehen. An ihrer Spitze bilden sie im Winter rosettenförmig angeordnete Blätter. „Für die Buschleute waren diese Sukkulenten tatsächlich halb Mensch, halb Pflanze: Einer Legende nach soll es sich um Krieger handeln, die über den Orange River flüchten mussten, stets sehnsüchtig nach Norden blickten, und dann verwandelt wurden", erzählt Johan de Waal. Aus der Ferne sehen die skurrilen Fettpflanzen tatsächlich aus wie hagere Männer, die den Hang hinaufmarschieren.
Die Steine erkennt man auf den ersten, die Inseln des Lebens auf den zweiten Blick. Wer mit Johan de Waal ein paar Tage unterwegs ist, hat am Ende viele Gründe, über den Richtersveld zu staunen. Da kriecht man lange auf dem Boden herum, um eine Spinnenkopfblume zu finden, deren Blüte gerade einen Tag lang hält. Da findet man in einem natürlichen Wasserreservoir winzig kleine Krebse, die hoffentlich den Kampf gegen die Verdunstung gewinnen werden, und lauscht abends im Camp den Geckos, während das Fleisch auf dem Grill zischt. Da rastet man unter einem Hirtenbaum, der schon vielen Reisenden Schatten gespendet haben muss. Da findet man an einem Steinbruch Versteinerungen und trifft mitten im Nirgendwo auf geometrische Felszeichnungen.
Vor ein paar Tagen muss auch in der nur scheinbar toten Felslandschaft der Regen niedergegangen sein, denn überall beginnt es nun zu sprießen. Unter den von runzeliger Rinde geschützten Köcherbäumen wiegen sich unzählige goldene Blüten im Wind. Auch anderswo öffnen Millionen von Wildblumen ihre Kelche – ein Schlaraffenland für die hier weidenden Ziegen. Die Halbnomaden der Nama dürfen ihre Herden in den Richtersveld-Nationalpark hineinbringen, auch wenn es inzwischen Probleme gibt durch Übernutzung. Immer wieder sieht man in den Ebenen bunte Halbkugeln im Gestein leuchten: Die Binsenhütten an den Lagerplätzen werden inzwischen mit Plastikplanen verstärkt. Das Wasser holen sie sich heute per Auto vom Orange River, der die Grenze zu Namibia bildet.
Ironischerweise ist der gewaltige Fluss der Grund, warum im Schutzgebiet nicht ausschließlich die Interessen der Natur Vorrang haben. Der Oranje hat im Laufe von Jahrmillionen tonnenweise Sedimente zum Atlantik getragen, vor allem aber sehr wertvolle Glitzersteine an seinen Ufern abgelagert. In der Umgebung des Nationalparks, als kommunales Reservat in Form einer „Conservancy" geschützt, sind Diamantensuche und Bergbau verboten. Die Unesco hat diese „Kulturlandschaft Richtersveld" als Welterbe anerkannt.
Dem Nationalpark blieb diese Auszeichnung verwehrt, weil hier nach Diamanten gegraben werden darf – das ist mit den Welterbe-Kriterien unvereinbar. Beim Parkeingang in Sendelingsdrift haben die Laster der Minen Vorfahrt, im Herzen des Parks gibt es einige Sperrgebiete. Die meisten der Wunden bleiben einem als Besucher verborgen. Immerhin versucht man inzwischen, den Abraum so zu verteilen, dass die Halden zumindest auf den ersten Blick natürlich aussehen.
Eine Legende hatte im 19. Jahrhundert Diamantensucher in den Richtersveld gelockt. Mitten in der Bergwüste, erzählte man sich, wachse eine Pflanze mit funkelnden Edelsteinen an ihren Wurzeln. „Natürlich haben alle Männer wie verrückt nach ihr gegraben. Doch niemand hat diese Pflanze je gefunden", sagt Johan de Waal, als er eines Tages durchs Gelände streift. Interessanterweise schenkt er, der sonst von vielen Gewächsen den lateinischen Namen kennt oder zumindest den viel bildhafteren in Afrikaans, all der Formen- und Farbenpracht dieses Mal keine Beachtung. Stattdessen kniet er nun vor einem unscheinbaren Gewächs mit rötlichen Stängeln und grasgrünen, dickfleischigen Blättern.
„Es gibt die Pflanze aus der Legende tatsächlich", sagt er dann, als sich alle Gäste neugierig um ihn versammeln, und ein Lächeln umspielt seine Lippen. „Nur hütet sie in Wahrheit etwas viel Wertvolleres als Diamanten." Die frischesten Blätter der Art, sie zählt zur Familie der Mittagsblumengewächse, sind verwachsen und formen eine Art Zellkokon. Johan de Waal faltet ihn jetzt vorsichtig auseinander – und gibt so den Blick frei auf den Wassertropfen, den Prenia sladeniana in ihrem Innersten für harte Zeiten aufbewahrt.
Das Namaqualand und der Richtersveld halten auch heute noch Schätze für seine Besucher bereit. Man muss nur Augen haben für die kleinen Wunder, die einem zu Füßen liegen.