Nicht erst mit den E-Bikes ist Fahrradfahren in eine neue Dimension vorgestoßen. Der Boom bringt Stadt- und Verkehrsplaner ins Grübeln und entwickelt sich zu einem echten Wirtschaftsfaktor. Und gerade auch in der Großstadt Berlin zeigen sich neue Nutzungsmöglichkeiten des Fahrrads, im Alltag wie in der Freizeit.
Auf die Welt gekommen vor 200 Jahren (1817) als Draisine, die Jugend als Fahrrad verbracht, erste Berufserfolge als bevorzugtes Fortbewegungsmittel der Arbeiterklasse während der Industrialisierung, dann Karriereknick im automobilen Zeitalter. Und nun die Renaissance in ungeahnter Vielfalt, vom E-Bike übers Velo-Taxi und Lastenfahrrad bis zum Fatbike: Das Fahrrad ist aus der verstaubten Abstellecke hinter der Kellertür wieder zurück im Alltag, erobert sich neue Räume und mausert sich in Nischen zum Kult. Mit verklärter Fahrradromantik hat die Entwicklung allerdings reichlich wenig zu tun.
Mögen die noch etwas zaghaften Anfänge der Wiederentdeckung des Drahtesels einem alternativen Umweltbewusstsein geschuldet sein: Längst haben sich ihnen handfeste Mobilitätskonzepte und eine florierende Wirtschaftsbranche zur Seite gestellt. Stadtplaner grübeln über die Integration von Fahrradkonzepten in eine Gesamtstrategie. Und neben den altbekannten Kurierdiensten, die es immer noch gibt, sprießen Start-ups aus dem Boden, die der Nutzung des Fahrrads ganz neue Perspektiven abgewinnen.
Trotz allem ist die Gesamtbranche, die mit dem Fahrrad zusammenhängt, nach wie vor ein eher stiefmütterlich unterschätzter Wirtschaftsfaktor. Schließlich geht es nicht nur um Produktion und Handel, es hängt viel mehr am Rad. Vom Postboten bis hin zu Leihstationen oder dem Pizzaservice per E-Bike. Auf die Idee, mal rauszufinden, wie hoch der Anteil dieses zugegeben etwas unübersichtlichen Konglomerats am Bruttoinlandsprodukt des Landes ist, ist bislang noch niemand gekommen. Für aufwendige statistische Erfassung, wie sie für die großen Branchen üblich ist, ist der Sektor in der Tat trotz Boom noch zu bescheiden. Auf der großen volkswirtschaftlichen Ebene sieht das etwas anders aus. Die Erfassung der Umsätze ist dabei das eine, die volkswirtschaftliche Kosten-Nutzen-Analyse das andere. Und die führt regelmäßig zu einem beeindruckenden Ergebnis.
Es geht um ein besseres Miteinander der Verkehrsarten
Für das Fahrrad und damit eine Mobilitätswende sprechen nicht nur ökologische Aspekte, die ohnehin auf der Hand liegen. Kosten-Nutzen-Analysen, die die Rentabilität von Investitionen in Infrastruktur abschätzen sollen, kommen zu einem klaren Ergebnis: Ein Autofahrer verursacht etwa 20 Cent Kosten pro Kilometer, ein Fahrrad erwirtschaftet pro Kilometer einen gesamtgesellschaftlichen Nutzen von 30 Cent. Die Zahlen, die Stefan Gösling von der Universität Lund (Schweden) im April vorgestellt hat, bestätigen andere Untersuchungen aus früheren Jahren. In den Berechnungen werden nämlich neben den klassischen Parametern wie Betriebskosten auch Aspekte wie Umweltverbrauch, Zeit (Staus et cetera), direkte und indirekte Gesundheitseffekte, Unfälle und viele andere Mobilitätseffekte miteinbezogen.
Dass der Dieselskandal und die Fahrverbotsdebatte einen neuen Drive in die Diskussion um eine Mobilitätswende gebracht haben, versteht sich selbstredend. Diese jetzt ideologisch-verbissen zu führen, wäre alles, nur nicht zielführend. Es geht weder um die Verteufelung des Automobils mit Verbrennungsmotor noch um die Verklärung der Fahrradmobilität. Es geht um ein Miteinander der verschiedenen Verkehrsarten, um einen Konsens, den alle mittragen können und von dem alle profitieren.
Mit seinem Mobilitätsgesetz, verabschiedet kurz vor der Sommerpause, hat Berlin einen Anfang gemacht: Aus der Autofahrerstadt soll nicht eine reine Radfahrstadt werden, sondern ein System, das die verschiedenen Bewegungsmöglichkeiten auf Rädern mit den Fußgängern und dem wichtigen öffentlichen Nahverkehr verschränkt. Um den Fahrradverkehr attraktiver zu machen, stehen unter anderem mehr, sicherere und breitere Fahrradwege auf dem Plan. Auch sollen die Radfahrer künftig ihre Drahtesel unter anderem an U- oder S-Bahn-Stationen an Fahrradbügeln oder sogar in Fahrradparkhäusern diebstahlsicher anschließen können.
Noch steht das Mobilitätsgesetz, zu guten Teilen erwachsen aus dem „Volksentscheid Fahrrad", fast nur auf dem Papier. Gerade starten die allerersten Schritte in Richtung Realisierung. Erst, wenn größere Teile der Planungen umgesetzt sind, wird man – egal, ob als Autofahrer oder Radler – Effekte des Umsteuerns beurteilen können.
Die Verbesserungen für die Radfahrer werden vielen zugutekommen. Denn wie viele schon jetzt in die Pedale treten, ist beeindruckend: Trotz Ferienzeit und unglaublich heißem Wetter registrierten die 17 fest montierten Fahrradzählstellen in der Stadt allein in der ersten Augustwoche mehr als 500.000 vorbeisausende Radler. Tendenz stetig steigend.